Von papierbasierter zu digitaler Kommunikation wechseln. Dies ist – vereinfacht gesagt – ein Ziel des Programms zur «Harmonisierung der Informatik in der Strafjustiz», kurz HIS. Auf der technischen Ebene sollen dazu eine digital gültige Unterschrift oder eine elektronische Akte geschaffen werden. Auf der organisatorischen Ebene meint «digital arbeiten» jedoch vor allem eines: medienbruchfreie Geschäftsprozesse schaffen. Im föderalen System der Schweiz bedeutet dies zusätzlich, aus einer Fülle verschiedener kantonaler Aktenführungen – unter Einbezug aller Betroffenen – einen digitalen Arbeitsprozess zu schaffen, der sämtliche Anliegen berücksichtigt und den gesetzlichen Rahmenbedingungen genügt. So betrachtet, zeigt sich als die zentrale Herausforderung von HIS die Förderung von Zusammenarbeit und Konsensfindung.
HIS steht für eine schweizweite Harmonisierung der Informatik im Bereich der Strafjustiz. Was heisst das konkret?
Jens Piesbergen: Wir wollen Medienbrüche in der Zusammenarbeit von allen Justiz- und Strafverfolgungsorganen eliminieren: von der Kriminalpolizei über Staatsanwaltschaften und Gerichte bis hin zum Justizvollzug und dem Strafregister. Die meisten Interaktionen zwischen diesen Justizorganen laufen heute typischerweise papierbasiert. Dort setzen wir also an: Wir wollen die Geschäftsabläufe verbessern, sodass wir insgesamt effizienter werden und die Qualität der bewirtschafteten Daten steigt. Das Ini tialisierungsprojekt «Vorgangsbearbeitung» betrifft den Datenaustausch zwischen Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft respektive auch unter Einbezug des Justizvollzugs und des Strafregisters und ist ein Schwerpunkt von HIS, das zusammen mit der Polizei angegangen wurde. Das zweite grosse strategische Projekt ist «Justitia 4.0», das es offiziell seit einem Jahr gibt. Darüber hinaus soll HIS zu einem Kompetenzzentrum für gewisse Themenbereiche anwachsen.
Welche Aufgaben gilt es in diesen Projekten zu meistern?
Die «Vorgangsbearbeitung» hat einen starken technischen Fokus. Es geht darum, die geeignete Lösung über die Industrie mit Software-Lieferanten auszuhandeln und umzusetzen. Hier sind vor allem Fachpersonen beteiligt. Bei «Justitia 4.0» ist das viel politischer, weil es über staatstragende Säulen hineingeht, namentlich die Exekutive und die Judikative. Übrigens ist es das erste Projekt schweizweit, welches die zweite und dritte Säule gemeinsam angeht. Hier nehmen wir in der Projektleitung die «Brückenbauer-Rolle» ein. Wir sprechen mit Führungspersonen und Politikern, aber auch konkret mit Fachexpertinnen und -experten sowie mit den Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeitern. Schliesslich wollen wir alle Anforderungen an den künftigen Arbeitsplatz im Griff haben.
Es geht also darum, alle Stakeholdergruppen miteinzubeziehen?
Genau. Wir bewegen uns mit dem Projekt in gewisse Kernprozesse der Strafverfolgungs- und Justizbehörden hinein. Zunächst haben wir aber die Mitarbeitenden im Blick. Denn sie führen die Verfahren mit Applikationen und mit IT-Unterstützung – und spüren die Veränderung am stärksten. Wir wollen die «Betroffenen» unbedingt zu «Beteiligten» machen und müssen deshalb für alle, die vor einem Bildschirm sitzen und mit einer Applikation interagieren, einen sinnvollen Arbeitsprozess gestalten. Nur durch den Einbezug aller betroffenen Personen können auch die nötigen Kulturveränderungen in den Organisationen stattfinden, die ein solcher Transformationsprozess verlangt. Damit haben wir Erfolg: Standen diese Personen dem Wandel zuvor skeptisch gegenüber, sind sie heute bereits neugierig auf weitere Veränderungen und bringen sich und ihre Ideen ein.
Über Jens Piesbergen
Jens Piesbergen, Program Manager von HIS, ist eine treibende Kraft hinter dem digitalen Wandel in der Strafjustiz. Er weiss, was es braucht, damit dieser Transformationsprozess gelingt. Während zwanzig Jahren sammelte Piesbergen Industrieerfahrung in der Softwareentwicklung im In- und Ausland auf verschiedenen Stufen bis hin zur Geschäftsleitung. Seit gut dreieinhalb Jahren setzt er nun seine Kompetenz und Branchenkenntnis für den Ausbau des HIS-Programms ein.
Was ist die Besonderheit eines solchen Digitalisierungsprojekts im Kontext eines Rechtssystems?
Grundsätzlich könnten wir das Ganze mit einem Topdown-Ansatz angehen und Lösungen aus Deutschland oder Österreich einkaufen, die schon etwas weiter sind. Ein zügiger Rollout und das Projekt wäre innert fünf Jahren abgeschlossen. Doch mit diesem Vorgehen hätten wir keinen personellen und politischen Rückhalt. Wir haben in der Schweiz ein föderales System, ein Milizprinzip mit Vor- und Nachteilen: Man diskutiert etwas länger, hat aber am Schluss eine tragfähige Lösung. Und das wollen wir erreichen, mit modernen Methoden in Umsetzung und Projektabwicklung. Daher spreche ich auch nicht gern von Digitalisierung, da dieser Begriff zu eng und technisch greift. Was wir umsetzen, ist eine digitale Transformation respektive ein Change-Management. Im Rahmen der Strafjustiz muss sich diese Transformation nicht nur in den Köpfen vollziehen, sondern sich darüber hinaus in Obligatorien der Gesetz gebung sowie in den internen Weisungen von Generalstaatsanwälten und kantonalen Gerichtspräsidenten niederschlagen. Wir gehen auf eine elektronische Kommunikation zu, die alle professionellen Akteure des Rechtssystems einschliesst. Das ist der erste Paradigmenwechsel. Ein gesetzlicher Entscheid, der dann beispielsweise die elektronische Akte zur führenden Akte kürt, ist der zweite Paradigmenwechsel.
Jetzt läuft «Justitia 4.0» seit einem Jahr. Welche Erfolge konnten Sie bisher verbuchen?
Der Rückhalt ist da – sowohl bei den Führungspersonen als auch bei den Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeitern. Das ist der nicht zu unterschätzende Erfolg. Dass es keinen grösseren Widerstand gab, der über Medien oder die internen Kanäle ausgetragen wurde, ist auch auf unseresehr offene und transparente Kommunikation zurückzuführen. Wir handeln nicht «top-down», sondern relativ transparent. Zum Beispiel arbeiten wir an der Akzeptanz einer offiziellen digitalen Signatur, damit diese schon vor der Einführung der vollständigen elektronischen Akte eingesetzt werden kann. Aber damit solche Erfolge erzielt werden können, braucht es den Rückhalt aller involvierten Parteien als Grundlage. Und das ist der eigentliche bisherige Erfolg des HIS-Programms.