Strafverfolgung im digitalen Wandel

Die Schweizer Justizlandschaft soll bis 2026 weitgehend papierlos funktionieren. Dies ist das deklarierte Ziel des komplexen Transformationsprojekts «Justitia 4.0». Am Ende wird nicht zuletzt die Polizei digital mit der Judikative im Austausch stehen. Bis es so weit ist, stehen noch einige Herausforderungen an.

Von Volker Richert · 11. März 2020

Es hört sich vergleichsweise simpel an: Mit dem im letzten Frühjahr gestarteten Projekt «Justitia 4.0» soll das Papier von den Schreibtischen der an Zivil-, Straf- und Verwaltungsgerichtsverfahren Beteiligten verschwinden.

Doch hinter diesem Paradigmenwechsel verbirgt sich ein auf acht Jahre angelegtes IT-Grossprojekt, mit dem der elektronische Datenaustausch in der Schweiz über alle föderalen Stufen und Instanzen ermöglicht werden soll. Denn es wird beabsichtigt, dass nach 2026 die Geschäfte der Justizbehörden elektronisch geführt werden – ab Beginn eines Verfahrens bis zum Archivieren der Akten. Dadurch wird die elektronische Justizakte (eAkte) generell als massgebende und rechtsgültige Akte etabliert.

Papierverzicht statt mobile Drucker
Betroffen ist davon insbesondere auch die Polizei, deren Vorgangsbearbeitung in vielen Kantonen heute noch vorwiegend papierbasiert abgewickelt wird. «Damit polizeiliche Frontsachbearbeiter ihrer gesetzlich vorgeschriebenen Dokumentationspflicht nachkommen können, führen sie einen Bundesordner voll Protokolle und Befragungsformulare oder mobile Drucker für das Ausdrucken von benötigten Formularen mit», konstatiert Michael Rudolf die aktuelle Situation. Laut dem Dienstchef des kantonalen Lagezentrums der Zuger Polizei steht in seinem Kanton der Wandel unmittelbar bevor: «Die Zuger Polizei wird dieses Jahr ein neues Vorgangsbearbeitungssystem einführen, welches es ermöglichen wird, in der polizeilichen Vorgangsbearbeitung komplett auf Papier zu verzichten, und legt damit polizeiseitig den Grundstein für die eAkte.»

Heute müssen Frontsachbearbeiter der Polizei Bundesordner oder mobile Drucker mitführen. Michael Rudolf, Dienstchef des kantonalen Lagezentrums der Zuger Polizei

Für die Kooperation mit «Justitia 4.0» ermöglicht die Zuger Polizei mit diesem System «die komplett elektronische Aktenführung vom Frontpolizisten bis ins Archiv und weiter über Schnittstellen in die Vorgangsbearbeitungssysteme der Justiz», erläutert Rudolf. Die Basis, schiebt er nach, «bildet ein Verfahren, welches es ermöglicht, strafprozessual vorgeschriebene Protokolle und Einvernahmen elektronisch zu erstellen und forensisch auswertbar elektronisch unterzeichnen zu lassen. Ohne dass dabei von der bewährten und im Gegensatz zu den elektronischen Signaturen bekannten Handunterschrift abgewichen werden muss.» Dafür wird eine fortgeschrittene elektronische Signatur eingesetzt, welche die verschlüsselten elektronischen Daten der Handunterschrift enthält.

Integrität und Authentizität
Welche Konsequenzen das hat, beschreibt Rudolf so: Vom bisherigen Erscheinungsbild der papierbasierten Dokumente wird nicht abgewichen und der Wiedererkennungswert der Dokumente bleibt erhalten. Zudem sind auf den Dokumenten weiterhin Unterschriften analog der Handunterschrift auf Papier erkennbar. «Der radikale Unterschied zu heute besteht darin, dass das Original der erstellten Akten eine PDF/A-Datei ist. Nur wer im Besitz dieser Datei ist, kann wirklich die Integrität und Authentizität des ‹Dokuments› beweisen», unterstreicht Rudolf.

Allerdings besteht gerade in Sachen digitaler Signatur noch ein Dilemma für die Einführung der eAkte. Für den Integritäts- und Authentizitätsschutz von elektronischen Dokumenten reiche es aus, Zeitstempel und/oder fortgeschrittene elektronische Signaturen, wie sie das ZertES (Bundesgesetz über die elektronische Signatur) spezifiziert, zu nutzen, erklärt Rudolf. Doch wenn Dokumente rechtsgültig elektronisch unterzeichnet werden müssen, ist man auf die sogenannte qualifizierte elektronische Signatur mit Zeitstempel angewiesen. Nur sie gilt «als elektronischer Ersatz für die Handunterschrift auf Papier und ermöglicht gleichzeitig einen Authentizitäts- und Integritätsschutz für das elektronische Dokument». Um sie zu erhalten, muss der Betroffene persönlich bei einem zertifizierten privaten Anbieter erscheinen und einen Identifizierungs- und Ausstellungsprozess durchlaufen.

Knackpunkt Handunterschrift
Dieses Verfahren ist mit Blick auf den Datenschutz, das Amtsgeheimnis und die hoch mobile Arbeitsweise der Polizei nicht praktikabel. Selbst wenn die Polizei über eine Möglichkeit verfügen würde, solche Zertifikate «on demand» und zu jeder Zeit bei einem privaten Anbieter generieren zu lassen, scheitert auch dieser Ansatz daran, dass die Daten der polizeilichen Kunden an einen privaten Anbieter übermittelt werden. Diesem müssen nämlich die Daten zur Ausstellung eines Zertifikats im Klartext vorliegen, wodurch auch in diesem Falle das Amtsgeheimnis verletzt würde.

Rudolf ist davon überzeugt, dass die im ZertES spezifizierte fortgeschrittene elektronische Signatur den einzigen gangbaren Weg darstellt, wie eine gesetzeskonforme, komplett elektronische Aktenführung möglich werden kann. Nur mit dieser Form der elektronischen Signatur kann ein adäquater und praktikabler Ersatz für die Handunterschrift auf Papier geschaffen werden, welcher seinem Pendant auf Papier bezüglich des forensischen Beweiswerts in nichts nachsteht. Derzeit fehlt eine ausformulierte gesetzliche Legitimierung für dieses Verfahren. Die Zuger Polizei beruft sich deshalb auf ein Rechtsgutachten der Universität St. Gallen aus dem Jahre 2016.

«Justitia 4.0» und seine Player
Insgesamt sollte aber nicht vergessen werden, dass der mit «Justitia 4.0» angestossene Transformationsprozess auf acht Jahre angelegt ist und auch Gesetzesänderungen vorsieht. Dabei sind in den angestrebten digitalen Wandel alle wichtigen Akteure inklusive der Polizei eingebunden: die Gerichte des Bundes und der Kantone, die Bundesanwaltschaft und die Staatsanwaltschaften, das Bundesamt für Justiz und der Justizvollzug. Zudem wird der angestrebte Umbau auch von den Schweizer Richtern und Anwälten mitgetragen.

Dabei liegt die Umsetzung hauptsächlich in den Händen der Schweizer Gerichte mit ihren Vertretern der Justizkonferenz sowie der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD). Das ebenfalls involvierte Bundesamt für Justiz ist dabei für die erforderlichen Gesetzgebungsarbeiten auf Bundesebene zuständig. In diesem Rahmen soll voraussichtlich im zweiten Quartal 2020 eine Vernehmlassung für das sogenannte eJustice-Gesetz gestartet werden. Bei der KKJPD sind insbesondere zwei Programme angesiedelt,
die sich der Harmonisierung der Informatik in der Strafjustiz (HIS) und der Harmonisierung der Polizeiinformatik (HPi) widmen. Umgesetzt wurde beispielsweise schon die im HPi-Programm entwickelte secEmail, die den sicheren E-Mail-Verkehr zwischen den Behörden erlaubt. Zudem ist hinsichtlich der Einführung des Justizportals Justitia.Swiss beim Strafgericht des Kantons Basel-Stadt schon eine Online-Akteneinsicht möglich. Hierüber lassen sich parteiöffentliche Aktenstücke durch Berechtigte einsehen.

Sicherer Datenaustausch
Die in den Kantonen Zug, St. Gallen und Graubünden vorangetriebene neue Vorgangsbearbeitungslösung (myABI) für insgesamt 18 Kantone wird von den Korps so entwickelt, dass eine durchgängige, medienbruchfreie Datenerfassung und -übermittlung zwischen den beteiligten Behörden und Registern über Schnittstellen sichergestellt ist. Rudolf weist diesbezüglich darauf hin, dass «in der deutschen Schweiz, mit Ausnahme des Kantons Bern, die polizeilichen Vorgangsbearbeitungssysteme nicht mit den justiziellen verschmolzen werden, sondern über die sogenannte JusPol-Schnittstelle miteinander verbunden» sind. Hierzu setze man auf den Standard eCH-0051. 

Die Zuger Polizei möchte bereits in diesem Jahr, wenn immer möglich auf den Einsatz von Papier verzichten. Michael Rudolf

Das HIS-Gremium stellt für IT-Dienstleister, welche weitere Schnittstellen entwickeln werden, bereits ein Testportal namens SanityCheck-Service (SCS) zur Verfügung. Das Portal erlaubt es, die Plausibilität von Schnittstellen zu oder zwischen Justiz- und Polizeibehörden zu prüfen und zu testen. Auch lassen sich über solche Schnittstellen unter anderem das erneuerte Strafregister VOSTRA einbinden, und dereinst sollen auch das Waffen- und Strafregister wie unter anderem auch die Migrations- und Strassenverkehrsämter integriert sein.

Mehrschichtiger Paradigmenwechsel
Es liegt auf der Hand, dass der mit «Justitia 4.0» angestrebte Umbau noch vor einigen Schwierigkeiten steht. Denn der damit einhergehende Paradigmenwechsel betrifft eben nicht nur den Wegfall des Papiers in den Gerichten und Kanzleien, sondern vielmehr die bisherige Arbeitskultur in der Justiz.

Über HIS: Harmonisierung im föderalen System

Einer der beiden Hauptplayer im Projekt «Justitia 4.0» ist die Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD). Als der politische Auftraggeber der Legislative und Exekutive betreut sie in verschiedenen Programmen die Harmonisierungen der Informatik. Eines davon ist die Harmonisierung der Informatik in der Strafjustiz (HIS). Dieses fördert in der Strafjustiz unter Einbezug aller Akteure die koordinierte Harmonisierung von bestehenden und neuen Lösungen in der Strafjustiz, die dem föderalen Umfeld der Schweiz Rechnung tragen. Zudem wird im Programm HIS die angestrebte Transformation verantwortet und umgesetzt, die Digitalisierung in der Strafjustiz erst möglich macht. Hinzu kommt, dass hier für «Justitia 4.0» Standards gesetzt und Innovationen eingebracht werden. Dazu kooperiert das HIS-Programm unter anderem mit dem HPi-Programm.

Über HPi: Medienbruchfreier Austausch zwischen Behörden

Das ebenfalls von der KKJPD initiierte Programm HPi (Harmonisierung der Polizeiinformatik) hat sich unter anderem die schweizweite IT-Zusammenarbeit unter den Polizeikorps auf die Fahnen geschrieben. Von dem HIS-Pendant vorgelegte Lösungen haben sich bereits bewährt. Dazu gehört beispielsweise das sogenannte secEmail für den sicheren E-Mail-Verkehr. Zudem sind die im HPi für das Polizeiwesen bereits definierten Standards eCH-0051 und eCH-0090 (Sedex) für gerichtspolizeiliche Bedürfnisse weiterentwickelt worden. So kann der Datenaustausch zwischen den Straf- und Justizvollzugsbehörden durchgängig und medienbruchfrei zwischen den beteiligten Behörden und Registern erfolgen. Weiter haben HPi und HIS für die Sicherstellung der Interoperabilität zwischen Behörden und Organisationen einen SanityCheck-Service entwickelt, der auch im Rahmen von «Justitia 4.0» zum Einsatz kommt.