Zwischen Livestream und Rüebli-Rüschte

Tabea Steiner hegt und lebt eine tiefe Leidenschaft für Literatur, legt einen preiswürdigen Erstlingsroman vor und setzt sich in Essays kritisch mit Tagesaktualitäten und Literatur auseinander. Als Literaturvermittlerin setzt sie sich mit Begeisterung für das geschriebene Wort anderer ein und baut Brücken, auf denen sich Publikum und Literaturschaffende begegnen. Physisch und digital.

Von Michaela Silvestri und Florian Brunner · 4. Oktober 2021

Tabea Steiner zum Thema digitale Kulturveranstaltungen

Ob physisch am Literaturfestival oder digital via Live-Stream: Das Publikum «auf die Perlen abseits der Beststellerlisten aufmerksam zu machen, auch diejenigen zu präsentieren, die ‹unter dem Radar› laufen», das will Tabea Steiner als Kulturvermittlerin erreichen. «Auch dort, wo wir nicht hinschauen, passiert sehr viel. Dafür wollen wir das Bewusstsein steigern.» Nirgends habe sie soviel über das Schreiben gelernt wie bei der Juryarbeit: «Ich will wissen, was die Autorinnen und Autoren zu erzählen haben, welches Bild sie von der Realität haben, wie sie denken. Mit der literarischen Sprache verleihen sie auch ihrem Weltbild Ausdruck. Dem auf den Grund zu gehen, fasziniert mich.»

Eine Schauspielerin kann auf Stimmungen im Raum reagieren, ihr Spiel anpassen, interagieren. Wie soll sie das bei einem Live-Stream anstellen? Tabea Steiner

Der soziale Austausch ist bereichernd

Als Schriftstellerin arbeitet Steiner naturgemäss allein und viel an ihrem Laptop. Die übrige Zeit verbringt sie daher sehr gerne in Gesellschaft. Mit Menschen zusammen zu sein, nennt sie: «aktiv an der Gegenwart teilnehmen». Diskurse und den sozialen Austausch empfindet sie als bereichernd und inspirierend: «Ich will möglichst vielen Menschen eine Stimme geben. Je mehr Leute in einer Gesellschaft zu Wort kommen, je mehr Meinungen und Perspektiven, umso besser. Ideal finde ich es, wenn ich als Veranstalterin einen aktiven Beitrag zur Meinungsvielfalt leisten und gleichzeitig daran teilhaben kann.» Das Gros der Gesellschaft zu beeinflussen, ist allerdings weder ihr Anspruch noch ihr Ziel. In kleinem Rahmen abzubilden, was dem Ideal einer echten Demokratie am nächsten kommt, schon eher. «Natürlich ist das Potenzial für Dialog und Kommunikation wie auch die Zahl der Bücher, die wir an einer Veranstaltung vorstellen können, sehr begrenzt. Wir versuchen bei den Festivals, eine gewisse Breite zu erhalten, indem wir Wiederholungen möglichst vermeiden.»

Digitaler Kulturkonsum will gelernt sein

«Während des ersten Lockdowns fiel es mir noch schwer, Lesungen oder Podiumsdiskussionen am Bildschirm zu verfolgen. Live-Streams haben mich schnell ermüdet und wenig Eindruck hinterlassen. Im Lauf der Zeit habe ich festgestellt, dass digital übertragene Kulturveranstaltungen ihre Wirkung nur entfalten, wenn ich mich ernsthaft darauf einlasse. Ganz so, wie es real erlebte Anlässe auch fordern. Man geht ins Theater, der Raum verdunkelt sich, und die Veranstaltung beginnt: Der Fokus ist ganz auf das Geschehen auf der Bühne gerichtet. Nicht anders funktioniert das bei Online-Übertragungen. Sobald ich mich ganz auf die Veranstaltung konzentriere, ganz so, als wäre ich vor Ort, springt der Funke über. Ich habe so die Vorteile von digitalen Kulturereignissen schätzen gelernt.»

Tabea Steiner

Live-Streams als Brücke und Bruch

Viele Kulturschaffende haben sehr schnell auf den Lockdown reagiert und sich die digitale Technik zunutze gemacht. Brachte diese «erzwungene Digitalisierung» der Kultur einen Mehrwert? «Die Zuschaltquoten haben uns überrascht. Da die Reichweite von Live-Streams örtlich unbeschränkt ist, finden Nischenbeiträge aus Bern oder Thun plötzlich auch in Grossstädten wie Berlin ihr Publikum. Mit geschickter Themensetzung kann unsere Literaturszene international Aufmerksamkeit gewinnen. Das ist ein klarer Vorteil», findet Tabea Steiner. «Aber noch nie war ein Festival so anstrengend für uns. Die Vorbereitungen auf einen Anlass erzeugen viel Spannung und Energie. Ohne Resonanz aus dem Publikum wird diese Anspannung nicht abgebaut, das Energielevel bleibt ständig auf höchstem Niveau. Das ist ein grosser Nachteil. Ich war konsterniert, als ich mich fünf Minuten nach meiner ersten Livestream-Lesung in der Küche wiederfand, allein, beim Karottenschälen. Mit dem Webradio-Live-Stream der Thuner Literaturtage, wo wir immerhin 30 Leute im Publikum haben durften, haben wir insgesamt sehr gute Erfahrungen gemacht. Allerdings war das aber auch sehr teuer.»

Eins und eins gibt mehr als zwei

Veranstaltungen live mitzuerleben, ist für Tabea Steiner um ein Vielfaches schöner, als «nur» digital dabei zu sein. «An den Festivals ergibt sich neben den Lesungen ein ‹Gesprächsgeflecht›, ein zweiter roter Faden, der sich im Laufe der Veranstaltung weiterentwickelt, neue Ideen generieren kann und oft aktuelle gesellschaftliche Themen aufnimmt, die inhaltlich auf den ersten Blick keine Verbindung zum Programm haben. Das ist online nicht möglich. Auch die Chatfunktion kann den wirklichen Austausch von Meinungen nicht ersetzen – dazu braucht es die Intimität eines kleineren Zirkels.» Zu Beginn des Lockdowns stand die Forderung im Raum, die Zeit zu nutzen, um neue Kunstformen zu finden und endlich die Digitalisierung mehr ins künstlerische Schaffen einzubeziehen. Steiner relativiert: «Es gibt hochspannende digitale Kunst, aber letztlich haben sich Kunstformen wie das Theater und auch die Literatur so weit entwickelt, weil man dafür das Haus verlässt. Die volle Wirkung entfaltet sich, weil sich das Publikum vorbereitet, die Menschen sich verabreden, vielleicht noch zum Essen gehen, sich passend kleiden. So werden alle Sinne angesprochen. Das menschliche Element kommt zu kurz, wenn das Ganze nur am Bildschirm stattfinden kann.»