Fliegst du schon oder kriechst du wieder?

Welche Rolle spielt der Mensch bei der Entwicklung von ICT-Systemen? Und welche müsste er eigentlich spielen? Matthias Graf, stellvertretender Gemeindeschreiber von Gossau ZH, erklärt an vier konkreten Beispielen, was uns alle beflügeln würde

Von Matthias Graf, Gemeinde Gossau ZH · 8. Mai 2024

Matthias Grafs Leidenschaft gilt sämtlichen Themen rund um New Work. (Foto: Florian Brunner)

Haben Sie Lust auf ein Gedankenexperiment und wollen Sie raus aus dem Alltag? Gut, starten wir damit. Angenommen ein Mensch hat das Tempo 1. Wenn er auf die Welt kommt, hat er Tempo 0.1. Später kann er gehen und das sogar schneller, dann schafft er vielleicht Tempo 2. Dann kann er ein Flugzeug als Tragmittel verwenden und erreicht so Tempo 1000. Welche Fortbewegungsart ist nun die beste?

Simple Frage, simple Antwort: Alle würden das Flugzeug wählen. Bei der ICT ist es grundsätzlich gleich. Früher hatten wir sehr wenig «ICT» und mittlerweile haben wir gefühlt und theoretisch Raketen, die uns mit der Geschwindigkeit 10'000 vorwärtsbringen müssten, um im Gedankenspiel zu bleiben. Doch wenn wir uns umhören, fühlen sich viele Leute beim Gedanken an die im Einsatz stehende ICT eher bei Tempo 0.1 und wünschen sich regelmässig vergangene Zeiten herbei, als alles noch so war wie früher. Halt besser, halt nur Geschwindigkeit 1 – aber immerhin, dies ist besser als 0.1. Doch was läuft schief? Wir haben die Möglichkeit eines 7-Gänge-Menüs und wählen den Eintopf? Der ist nicht schlecht, aber das Potenzial ist nicht ausgeschöpft. Also nun ernsthaft – was läuft schief?

Was beim Konzipieren von IT-Systemen essentiell ist

Die ICT ist nicht auf die User ausgerichtet. Sie ist nicht so konzipiert, dass der Mensch zum Fliegen kommt, sondern mehrheitlich so, dass das Flugzeug an sich perfekt konzipiert ist. Wir bauen ICT-Systeme und damit sind alle dazugehörigen Komponenten einer ICT gemeint, die hochkomplex sind, funktional einwandfrei und in der Theorie somit optimal sind. Solange dies jedoch nicht mit dem Kernkriterium verbunden wird, ob die ICT auch für die Anwendungsgruppe passend ist, bringt dieses ICT-System schlicht wenig bis gar nichts. Es braucht also eine Verbindung zwischen den technischen und den menschlichen beziehungsweise organisatorischen Komponenten in einer Unternehmung, wenn es um die Konzipierung solcher ICT-Systeme geht.

Pro Unternehmung wird das unterschiedlich aussehen, sei dies durch den Einbezug des HRs oder durch die Involvierung der Geschäftsleitung in Arbeitsgruppen. Wie diese Verbindung stattfindet, ist individuell. Dass sie aber stattfindet, ist essentiell.

Es geht um mehr als Datenschutz, Clients und Richtlinien

Ich möchte vier Praxisbeispiele aufgreifen, wie aus meiner Sicht diese Verbindungen in der Praxis aussehen können:

  • Microsoft 365: Es geht bei M365-Projekten nicht nur um Datenschutz (z. B. US-Cloud-Act), sondern es geht auch um die Komponente, wie die Leute heute arbeiten möchten. Hochkomplexe Datenkonstrukte, die im Alltag fast nicht mehr zu bewirtschaften sind, bringen die Leute zum Kriechen und demotivieren sie. Kompromisse müssen gefunden werden.
  • Mobiles Arbeiten: Es geht nicht nur um Telefonie, Clients und Drucker, sondern darum, wie die Leute heutzutage ihren täglichen Arbeitsort auswählen sowie auch ihren Arbeitgeber. Deshalb darf beispielsweise der Digitalisierung von Akten, stabilen WLAN-Infrastrukturen, qualitativ hochwertigen Clients und Headsets viel Gewicht beigemessen werden.
  • Richtlinien zur ICT-Sicherheit: Es geht nicht nur um die Einhaltung solcher Richtlinien im Alltag, sondern auch darum, wie das tägliche Arbeiten trotz gefühlt 57 Richtlinien Spass macht. Denn die Leute wollen heute mehrheitlich Spass haben bei der Tätigkeit und wechseln ansonsten vielleicht den Arbeitgeber. Möglicherweise gibt es deshalb andere Ansätze als zum neuen Thema Sicherheit schlicht ein neues Reglement zu erlassen.
  • ICT-Schulungen: Eine Initialschulung mag wichtig und gut sein. Aber es geht nicht nur darum, den Leuten einmalig die ganze Thematik «vorzulegen», sondern man muss sie für ihren Alltag befähigen und ausrüsten. Dafür benötigt es weit mehr als einmalige Sessions, nämlich wiederkehrende Möglichkeiten. Die Menschen benötigen Zeit, Mehrwerte für ihre Alltagssituationen abzuleiten und darin dürfen wir Begleiter sein.

Menschen sollen fliegen können

Das sind nur vier Beispiele, die aufzeigen, dass ständig ähnliche Projekte bevorstehen, bei denen wir technisch einen optimalen Job machen können, es aber auch um die menschlichen Komponenten ergänzen können, sodass durch den Output des Projekts auch wirklich Menschen zum Fliegen kommen. Der Fokus liegt dabei beim konkreten «Fliegen» und nicht beim Flugzeug oder beim Beschrieb desselbigen, um das ursprüngliche Bild nochmals aufzugreifen.

Wenn diese Komponenten jeweils zum wichtigen Bestandteil bei den Ausgestaltungen einer ICT-Komponente werden, dann entsteht eine Lösung, dank der die ICT effektiv dazu wird, wozu sie eigentlich da ist und sie auch schier unendliches Potenzial besitzt: Nämlich Menschen zum Fliegen und zu einer höheren Geschwindigkeit zu bringen, sodass sie bessere Rahmenbedingungen erhalten, um ihren eigentlichen Job auszuführen. Darum geht’s doch.

Gastkolumnen im Abraxas Magazin

Das Abraxas Magazin lädt Gastautorinnen und -autoren dazu ein, pointiert zu Aspekten der Digitalisierung Stellung zu nehmen. Die Texte geben die Ansichten und Meinungen der Autorinnen und Autoren wieder und können von der Position von Abraxas abweichen.

Matthias Graf

Über Matthias Graf

Matthias Graf ist Mitglied der Verwaltungsleitung von Gossau ZH. Er leitet verschiedene Projekte im Kontext von ICT und Human Resources. Seine grosse Leidenschaft gilt sämtlichen Themen rund um New Work und wie sich Betriebe organisieren können, sodass Mitarbeiter:innen und Arbeitgeber gleichzeitig zur Entfaltung kommen: generationenübergreifend, branchenübergreifend, ortsunabhängig. Regelmässig schreibt er zu entsprechenden Themen auf Linkedin.