Wo die digitale Schweiz entsteht

Von einem Digitalisierungsschub ist derzeit die Rede. Die entsprechenden Erwartungen von Bevölkerung und Wirtschaft an die öffentliche Hand steigen. Prozesse sollen durchgängiger und effizienter werden. Die drei Staatsebenen sollen digital zusammenwachsen. Auch die Bedürfnisse der eigenen Mitarbeitenden treiben den Technologiewandel in der Verwaltung voran. Dabei zeigt sich: «Digital first» beginnt bei der IT-Infrastruktur.

Von Bruno Habegger und Daniel Meierhans · 7. Mai 2021

Natürlich weiss auch Werner Reich im ländlichen Toggenburg, dass die Digitalisierung den Staat erreicht hat. Fernab solcher Entwicklungen ist er nicht, auch wenn er sich hauptsächlich über Fortschritte bei der Verwaltung und beim Support der PCs seiner Mitarbeitenden freut. Werner Reich ist Leiter des Steueramts von Wildhaus-Alt St. Johann und Verantwortlicher für die IT, ein Quereinsteiger in die Verwaltung, die in Pandemiezeiten auch im Home-Office funktionieren muss. Seit der Gründung der Einheitsgemeinde von 2010 verfügt sie über eine einheitliche Arbeitsplatzinfrastruktur mit 22 Arbeitsstationen, ist über das kantonale Datennetzwerk KOMSG mit dem Rechenzentrum von Abraxas und den zentralen Datenablagen und Applikationen verbunden.

Und sie hat keine Tischtelefone mehr. «Das hat Überzeugungsarbeit gekostet!» Im Tagesgeschäft solle die IT einfach funktionieren. «Das Outsourcing hat uns entlastet – gerade in der Pandemiezeit mit steigenden Anforderungen etwa im Steuerbereich hat sich dies klar gezeigt.» Vorbei die Zeiten,
als man bei einem PC-Ausfall auf die Ankunft des externen Supporters warten musste. Werner Reichs höchster Anspruch an die IT derzeit? Er nennt die Nutzer: «Mehr Neugier und mehr Einlassen auf Veränderungen wünschte ich mir!»

Das Outsourcing hat uns besonders in dieser Pandemiezeit entlastet. Werner Reich, Leiter Steueramt Wildhaus-Alt. St. Johann

Treiber der Veränderungen
Veränderungen hat es seit Ausbruch der Pandemie im Frühling 2020 zur Genüge gegeben – und Anlass, über die eigenen Gewohnheiten im Umgang mit der IT-Infrastruktur nachzudenken. Wie in der Privatwirtschaft haben auch Verwaltungsorganisationen auf allen Staatsebenen rasch auf Home-Office umgestellt und sichere Konzepte vor Ort in den Büros entwickelt. Erweiterte Organisationsperimeter ziehen zwangsläufig technologische Veränderungen nach sich. Die Pandemie hat IT-Trends beschleunigt, die sich schon vorher abgezeichnet haben, die Verstärkung von Sicherheitsmassnahmen in der IT-Infrastruktur und in der Organisation etwa oder die intensivere Nutzung von öffentlich zugänglichen Cloud Services.

Als viertes Element erfasst die digitale Transformation alle drei Staatsebenene: Vom Gemeindeschalter ... (Bild: Keystone)

Seit dem Ausbruch der Pandemie wünschen sich Mitarbeitende einen Mix aus klassischer Büro- und Home-Office-Arbeit. Die technischen Anforderungen an solche Arbeitsplätze gehen weit über die Remote-Pflege eines Arbeitsplatz-PCs hinaus. Daten müssen durchgängig mit hoher Leistung, Sicherheit und Vertraulichkeit zur Verfügung stehen. Dies erst noch in Zeiten verstärkter Angriffe aus dem Cyberraum.

Und dann ist da noch das Smartphone, im Grunde nichts anderes als ein Endgerät für die Public Cloud. Moderne Anwenderschnittstellen müssen einfach gestaltet sein, was oft komplexe Neustrukturierungen von Prozessen im Hintergrund erfordert. Bürgerinnen und Bürger erwarten den selben digitalen Komfort von Verwaltungen wie im privaten Umfeld. Oftmals überwiegen Nutzen und Bequemlichkeit dabei ihre Datenschutz-Skepsis.

Verwaltung im Spannungsfeld
Verwaltungen spüren den Technologiedruck vom Anwender und einer sich rasch wandelnden Infrastruktur. «Wir unterscheiden uns da kaum von der Privatwirtschaft», sagt Hansruedi Born, CIO des Kantons Zürich, «sind aber ein stark regulierter Markt.» Wo der Wettbewerbsdruck fehle, müssten interne Anreizsysteme spielen.

Der Föderalismus schafft Innovationswettbewerb. Und Outsourcing hilft, das Innovationspotenzial freizulegen. Hansruedi Born, CIO Kanton Zürich

Es sei halt nicht von der Hand zu weisen, sagt Born, der aus der Privatwirtschaft kommt: «Der Kernauftrag der Verwaltung war bisher halt nicht auf Innovation ausgelegt, sondern auf – Verwaltung.»

Verwaltungsorganisationen sollten nicht nur den Nutzungsinteressen der Bürgerinnen und Bürger folgen, sondern auch die Risiken gering halten, den Mitteleinsatz optimieren, auf einem sicheren rechtlichen Boden stehen und Datensicherheit und Datenschutz strikte befolgen. Das zeigen die Diskussionen um den Einsatz von Video-Conferencing-Lösungen während der Corona-Pandemie.

«Öffentliche Verwaltungen könnten nicht wie privatwirtschaftliche Unternehmen mit gewissen Unsicherheitsmargen leben», sagt Martin Huber, Geschäftsleiter der Schweizer Informatikkonferenz. «Das würden Bürgerinnen und Bürger genauso wenig akzeptieren wie die Gerichte.» Somit ist klar: Verwaltungsorganisationen bewegen sich anders als private Unternehmen in einem mehrdimensionalen Spannungsfeld. Ihr «Profit» sind ideale Rahmenbedingungen für Mensch und Wirtschaft. Und Verluste fahren sie ein, wenn Bürgerinnen und Bürger das Vertrauen verlieren.

… über die kantonale Verwaltung – im Bild das Zürcher Kantonsparlament – bis … (Bild: Keystone)

Steigende Anforderungen
Die E-Government-Strategie des Bundes mit einem neuen «Digital first»-Ansatz – Prozesse sollen digital gedacht werden –, der Druck vonseiten der Bürgerinnen und Bürger, mehr Komplexität in den Verwaltungsabläufen mit dem verstärkten Wunsch nach Effizienzsteigerungen und mehr Resilienz, technologische Entwicklungen und immer stärkere Angriffswellen – die öffentliche Verwaltung sieht sich vor der riesigen Aufgabe, Technologie- und Umsetzungs-Know-how zu beweisen, ohne ihr Kerngeschäft zu
vernachlässigen.

Zu den inzwischen bereits traditionellen ICT-Disziplinen wie Gerätemanagement, Virtualisierung, Softwareverteilung, Self-Service-Portal, redundanter Rechenzentrumsbetrieb, Rund-um-die-Uhr-Support, Lifecycle-Management, sichere Authentifizierung und Autorisierung, Firewall Services oder Disaster Recovery kommen neue Ansätze wie Multi- und Hybrid-Cloud sowie Container- und Micro-Services hinzu.

E-Government funktioniert nur, wenn alle Staatsebenen und Partner zusammenarbeiten. Martin Huber, Geschäftsleiter SIK

Zusammenwachsen der Staatsebenen
Dem Wunsch von Bevölkerung und Unternehmen nach einem einheitlichen elektronischen Behördenverkehr steht der föderale Aufbau unseres Staatswesens entgegen. Für Martin Huber, Geschäftsleiter der Schweizer Informatikkonferenz, ist klar, dass E-Government nur funktionieren kann, wenn alle Staatsebenen gemeinsam und mit kompetenten Partnern aus der Wirtschaft zusammenarbeiten.

Das hat bereits begonnen. So hat der Kanton Zürich im ersten Pandemiejahr einen Softwareroboter zur Bewältigung der Flut an Kurzarbeitsgesuchen entwickelt, den nun auch der Kanton Aargau nutzt. Mit Anschluss an die IT des Bundes. Unternehmen können ihre Anträge digital einreichen. An der Medienkonferenz zur Ankündigung der neuen Organisation Digitale Verwaltung Schweiz (DVS) erwähnte der künftige Leiter Peppino Giarritta den Dienst «eUmzug» und die Herausforderungen dahinter: «Es braucht anwendungsbezogene Standards, leistungsfähige Basisstrukturen und Regelungen für eine koordinierte Datennutzung sowie institutionelle Grundlagen für den Einsatz von Cloud-Diensten in der Verwaltung.» Laut dem Grundlagenpapier der neuen Organisation liegt in der Cloud «Synergiepotenzial durch gemeinsamen Leistungsbezug bzw. -erbringung sowie Bündelung von Ressourcen und Kompetenzen.»

Martin Huber von der SIK, die in der neuen Organisation aufgehen soll, spricht die zentrale Rolle der Gemeinden an. «Sie bewältigen 70 Prozent der Behördenkontakte, in der Öffentlichkeit und Politik wird diese zentrale Rolle der Gemeinden für die Umsetzung der Digitalisierung aber kaum beachtet», sagt er. «Sie benötigen deshalb Unterstützung».

Unterstützung im Kerngeschäft
«Der Leidensdruck ist auf allen Ebenen gross», sagte Peppino Giarritta, in der Fachpresse als «Mr. E-Gov» bezeichnet, bei seinem ersten Medienauftritt in der neuen Rolle. «Das Problem kann man nicht alleine lösen, das ist breit unterstützt.» In der Tat zeichnen sich die Zentralisierung und die Standardisierung der ICT-Infrastrukturen der öffentlichen Hand seit längerem ab. Gemeinden schliessen sich in Verbünden zusammen, die ihre ICT gemeinsam betreiben, grössere Städte und Kantone vereinen die verteilten IT-Abteilungen ihrer Ämter in wenigen Rechenzentren. Externe private Anbieter fassen solche Verbünde zusammen und bieten somit weitere Skalenvorteile.

Beschleunigt werden solche Zentralisierungstendenzen durch einen anderen prägenden IT-Trend: Immer mehr Applikationen und Lösungen werden im «As-a-Service»-Modell aus der Cloud zur Verfügung gestellt. Fachapplikationen und Kundenschnittstellen treffen dabei auf die Clouds von Business-Software-Anbietern, auf Infrastruktur-Plattformen, Anwendungen und Dienste von externen Anbietern, auf die Kommunikationsclouds der Collaboration-Anbieter – und die Mitarbeitenden-Arbeitsplätze werden ebenfalls immer häufiger von einem spezialisierten Partner als Service betrieben. Hinzu kommen Hunderte weiterer Dienste, die zum Teil in die Applikationen oder in die Webseiten integriert sind, von Währungsrechnern und Abfallkalendern bis zu Übersetzungswerkzeugen. Tausende von Cloud-Diensten können nach Erfahrung von Martin Huber in einem solchen Netz aktiv sein.

Der Leidensdruck ist auf allen Ebenen gross. Peppino Giarritta, Beauftragter Digitale Verwaltung Schweiz

Automatisch entstehen so komplexe hybride Multi-Cloud-Umgebungen, in denen alle möglichen Cloud-Modelle unterschiedlichster Anbieter möglichst nahtlos zusammenspielen müssen mit durchgängigen Datenflüssen bis in die Verwaltungsprozesse hinein. Public und Private Cloud kombiniert über mehrere Anbieter hinweg – die Anforderungen an die IT-Abteilungen der öffentlichen Verwaltungen werden immer grösser. Die Governance in solchen Umgebungen erfordert viel Know-how und Ressourcen.

In der SIK ist zum Beispiel ein Konzept entstanden, das den Wandel vom Erbringer von IT-Leistungen im On-Premise-Modell zum Broker von Cloud-Leistungen beschreibt. Die IT muss in Zukunft sicherstellen, dass die internen und externen Leistungserbringer die Cloud-Dienste sicher, zuverlässig und rechtskonform integrieren können. Der Betrieb eigener Lösungen verliert an Bedeutung. Für die IT-Abteilungen der öffentlichen Verwaltung bedeutet dies ein Umdenken, einen Kulturwandel. Alles selbst zu machen, ist nicht länger sinnvoll.

Rollenwechsel der IT-Abteilungen
Mit und in der digitalen Transformation befindet sich die Schweiz gewissermassen auf dem digitalen Weg zur vierten Staatsebene, die einen digitalen, direkteren Zugang zu Gemeinde, Kanton und Bund ermöglicht. Mit einer elektronischen Identität und föderierten Logins zu den Diensten von Bund, Kantonen und Gemeinden, sagt Martin Huber.

… nach Bundesbern. Die Digitalisierung erfasst alle Ebenen der Verwaltung. (Bild: iStock)

Das entspricht ganz der Intention von Hansruedi Born, dem CIO des Kantons Zürich: Er sieht eine Verschmelzung der Staatsebenen in der Vertikalen wie auch in der Horizontalen. «Der Föderalismus sorgt gewissermassen für einen Innovationswettbewerb und schafft dadurch Anreize zur Zusammenarbeit.» Eine gute Infrastruktur mit Integration aller Staatsebenen werde zu einem strategischen Erfolgsfaktor der Schweiz. Für die IT-Abteilungen bedeutet dies eine Zielverschiebung: «Betreiben ist künftig keine Kernkompetenz mehr.» Outsourcing hilft dabei, den Kern der Tätigkeit zu erkennen: «Wertschöpfung
für den Bürger und die Wirtschaft erzielen: Die IT wird zur kritischen Infrastruktur wie Stromnetz, Strasse oder Schiene.» Er, der die Schweiz im ersten Drittel der Digitalisierung sieht, ist guter Dinge. «Bis vor 18 Monaten war der Einsatz einer Hypercloud noch undenkbar.» Die IT-Abteilungen quer durch die ganze Verwaltung wandeln sich mit der digitalen Schweiz, in der der Kunde und seine «Experience» im Zentrum stehen – sein Vertrauen in den Staat. «Das Wichtigste überhaupt», sagte Peppino Giarritta in einem Interview mit SRF.

Werner Reich im Toggenburg sieht die Vorteile des Outsourcings pragmatisch. Er spricht von weniger Unterbrüchen, «einer massiven Entlastung», von mehr Zeit fürs Kerngeschäft, die Steuerdossiers beispielsweise, vor allem aber für den Kontakt zu den 2596 Menschen in seiner Gemeinde. «Dieser Faktor zählt in Zukunft noch mehr als heute.»