Was könnte man im Herbst 2024 über künstliche Intelligenz (KI) in der öffentlichen Verwaltung schreiben, dass es möglichst aktuell, informativ und wissenschaftlich fundiert ist? Der weltweite «ChatGPT-Moment» liegt bereits fast zwei Jahre zurück, der schlagartig neue Akronyme wie genAI (generative KI), LLM (Large Language Model) oder RAG (Retrieval-Augmented Generation) in den Sprachgebrauch der heutigen Arbeitswelt Vieler beförderte. Vergleichen kann man dies mit dem damaligen «iPhone-Moment» 2007, der rückblickend eine neue Smartphone-Ära einläutete.
Deutschland: Chatbots, Copilot, KI im eigenen Rechenzentrum
In Deutschland ist die Stadt Heidelberg nennenswert: Sie hatte bereits vor ChatGPT in 2022 die erste Version des KI-Chatbots «Lumi» in Betrieb, viele deutsche Städte und Gemeinden ziehen seither Schritt für Schritt mit der neu verfügbaren Technologie nach. Im Mai 2023 war Baden-Württemberg mit der Einführung des KI-Assistenten F13 das erste Bundesland in Deutschland, das seiner Landesverwaltung eine künstliche Intelligenz im eigenen Rechenzentrum anbot. Ab Herbst 2024 sollen weitere Bundesländer über das Netzwerk des nationalen GovTech Campus das KI-Betriebssystem nutzen können.
Grosse Unternehmen wie Microsoft haben ebenfalls Ende 2023 für ihre Kunden «Copilot for Microsoft 365» als integrierte KI-Funktion eingeführt – der echte Nutzen davon wird aber von vielen Nutzenden noch unterschiedlich bewertet. Das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO begleitet aktuell die Einführung von Copilot bei Fraunhofer wissenschaftlich: Nach fünf Wochen zeigen sich hier zunehmend positive Effekte bei durchschnittlich 15 Minuten Einsatz/Woche je Nutzendem.
Es bleibt spannend für künstliche Intelligenzen im föderalen System, von wem, wie schnell und in welchen Prozessen sich Anwendungen in den Verwaltungen von Kommunen, Ländern und Bund durchsetzen werden. Auch die europäische Ebene hat mit dem weltweit ersten «AI Act» im Frühjahr 2024 wegweisende Rahmenbedingungen für Wirtschaft und Staat geschaffen. Die Frage, welche Akteure die Zukunft von KI bestimmen werden und ob diese letztendlich «open source» oder «as-a-service» sein werden, bleibt hierbei noch offen.
Wie sich KI in den Verwaltungen integrieren wird – ein Stufenmodell
Bereits im Januar 2020 hat das Fraunhofer IAO zusammen mit der Zeppelin-Universität Friedrichshafen die Potenzialstudie «Künstliche Intelligenz in der öffentlichen Verwaltung – Anwendungsfelder und Szenarien» unter Mitwirkung von fast fünfzig Fachleuten aus zehn Stadtverwaltungen, IT-Dienstleistern und öffentlichen Institutionen aus Baden-Württemberg veröffentlicht.
Sie sollte einen Überblick der Fähigkeiten und Einsatzmöglichkeiten künstlicher Intelligenz im öffentlichen Sektor liefern und gleichzeitig Entscheidungsträgerinnen und -trägern aus Politik und Verwaltung die Abwägung von damit verbundenen Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken erleichtern. Dabei sollte primär die Anwenderperspektive aus der Verwaltung als zentrales Element verankert werden. Denn künstliche Intelligenzen können für unterschiedliche Aufgabentypen in den verschiedensten Kontexten eingesetzt werden. Die KI-Basistechnologien und -Anwendungen haben aufgezeigt, welche menschlichen Fähigkeiten zur Erfüllung von Aufgaben bereits heute durch KI übernommen werden können.
Fünf Anwendungsfelder in Verwaltungen zeichnen sich ab
Fünf Anwendungsfelder zeigen dabei als eine Art Stufenmodell exemplarisch auf, wie sich künstliche Intelligenz als weiterer Modernisierungstreiber voraussichtlich in den Verwaltungen durchsetzen wird – im Vordergrund steht hier jeweils die Entlastung heutiger Mitarbeitenden bzw. Tätigkeiten und nicht die Ablösung:
- Stufe 1: Front-Office – KI-gestützte Vordergrundverwaltung in der Bürgerkommunikation
Hierzu gehören beispielsweise einfache Chatbots und persönliche Sprachassistenten, intelligente Formulare, Service-Roboter als digitale Assistenten oder vollautomatisierte Terminals vor Ort in Bürgerbüros oder Rathäusern. Dabei spielen bereits Aspekte wie digitale Identitäten und sicherer Umgang mit persönlichen Daten eine wichtige Rolle. - Stufe 2: Back-Office – KI-gestützte Hintergrundverwaltung in der Sachbearbeitung
Dies umfasst bereits interne Datenverarbeitungsprozesse (oder zwischen Behörden) unter Einsatz von schwacher oder starker KI, welche auch Aspekte von RPA (Robotic Process Automation), also (teil)automatisierte Prozesse umfassen kann. Als Anwendungsbeispiele hierfür sind Workflowmanagement oder auch KI-Einsatz im Personalwesen zu nennen.
- Stufe 3: Entscheidungsunterstützung – beratende KI-Systeme
Vor dem Hintergrund zunehmend evidenzbasierter Entscheidungsprozesse in Verwaltungen gewinnen datengestützte Entscheidungen auf Basis von KI-Systemen an Bedeutung. Somit können Routinefälle schneller bearbeitet werden. In Sonderfällen kann aber auch problemlos von diesen durch hohe Transparenz abgewichen werden. Beispiele hierfür sind intelligente Einsatzplanung, Prognosemodelle oder vorausschauende Wartungsprozesse («predictive maintenance»). - Stufe 4: Entscheidungsautomatisierung – entscheidende KI-Systeme (prüfbar)
Neben der Unterstützung des Entscheidungsträgers wird künstliche Intelligenz auch zur vollständigen Automatisierung von Entscheidungen eingesetzt. Der Mensch wechselt in die Rolle eines Prüfers bzw. Dirigenten und verbindliche Entscheidungen werden autonom und damit ausschliesslich durch ein technisches System getroffen werden. Dies findet bereits für automatische Bewilligungen in der Steuerverwaltung statt. - Stufe 5: Entscheidende KI-Systeme mit Echtzeitfähigkeit (nicht prüfbar)
Diese Stufe stellt die höchste Ausprägung dar, die sich als Software- und Hardware-Lösungen im Einsatz befinden können. Dabei spielt ein Erkennen und Reagieren in Echtzeit eine Voraussetzung von behördlichen Prozessen dar – beispielsweise im Katastrophenmanagement, der Verkehrssteuerung oder der Gefahrenabwehr. Dies erfordert umfassende Überprüfungs- und Eingriffsmöglichkeiten im Bedarfsfall.
Wo geht die Reise hin: KI zum Anfassen
Entlang dieses Stufenmodells ergibt sich für die Verwaltungspraxis in kleinen Gemeinden, Grossstädten oder öffentlichen Einrichtungen eine hinreichende Orientierung, wo sich viele zum heutigen Zeitpunkt befinden und wie vielfältig sich in Zukunft KI-Anwendungen integrieren werden. Dennoch sind viele Zukunftsszenarien, wie sich künstliche Intelligenz mittel- und langfristig durchsetzen wird, noch zu diskutieren – schliesslich muss jede Technologie von uns als Gesellschaft mitgestaltet werden. Dies gilt auch hier besonders gemäss dem Technologiegesetz des Technikphilosophen Melvin Krantzberg: «Technologie ist niemals gut oder schlecht – noch ist sie neutral.»
Nach einer gewissen Unsicherheit oder «Hektik» der letzten Monate lassen sich damit folgende Aspekte zusammenfassen: Künstliche Intelligenz – vor allem in der Form grosser Sprachmodelle – ist gekommen, um zu bleiben. Die Entwicklung und der Reifegrad von KI-Anwendungen in Wirtschaft und Verwaltung wird weiterhin exponentiell und nicht linear verlaufen. Das heisst, in den nächsten zwei Jahren wird technologisch mehr passieren als in den letzten vier Jahren. Die Fähigkeit zum Umgang mit KI und die «Leistungssteigerung» durch intelligenten KI-Einsatz wird für Mitarbeitende in den Verwaltungen von morgen zur Schlüsselkompetenz. Durch geeignete Formate in Organisationen sollten die «Eintrittshürden» für KI-Anwendungen so gering wie möglich gehalten. In Transferprojekten wie «KI-Studios» (seit 2023 gefördert durch das Bundesarbeitsministerium BMAS) besuchen Forschende des Fraunhofer IAO hunderte Unternehmen mit mobilen Laboren und Demonstratoren vor Ort, schulen Betriebsräte und vermitteln anschaulich Wissen, Potenziale und Risiken.
Und nicht zuletzt: Ohne Digitalisierung bestehen keine Möglichkeiten für intelligenten KI-Einsatz. Es braucht klare Datenarchitekturen, digital durchgängige Prozesse, die richtigen Fachleute, Motivation um Neues ausprobieren zu können und am Ende auch die passenden Partner, um nicht jedes Mal mit viel Aufwand das Rad selbst und neu erfinden zu müssen.
Über Dr.-Ing. Steffen Braun
Steffen Braun ist stellvertretender Institutsleiter des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO in Stuttgart. Von Dezember 2016 bis Mai 2024 war er Mitglied des Direktoriums und Leiter des Forschungsbereichs «Stadtsystem-Gestaltung» am Fraunhofer IAO. Im Fokus seiner Forschung steht die Frage, wie sich Städte, ihre Verwaltungen und urbane Systeme klimagerecht, technologieoffen und anpassungsfähig gestalten lassen. Er ist Autor von mehr als 40 wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Publikationen.