Provokativ gesagt, ist Innovation ja nicht gerade das, was man mit öffentlichen Verwaltungen in Verbindung bringt. Müsste man nicht eher von Transformation sprechen?
Pereira: Unsere Aufgabe besteht darin, zu erkennen, was die Kunden benötigen, um ihre Aufgaben effizienter erledigen zu können. Die Innovationstreiber können Verwaltungsmitarbeitende oder die Bürger sein. Diese und Transformationsideen aus anderen Quellen müssen von uns erkannt und bewertet werden. Diesen Prozess haben wir im letzten Jahr neu gestaltet und strukturiert. Innovations- oder eben Transformationsideen sollen erkannt und mit einem Geschäftsszenario hinterlegt werden können, mit dem Abraxas auch Business generieren kann.
Werder: Wir müssen dafür sorgen, dass die Gewohnheiten der Bürger bezüglich neuer Technologien auch in der Verwaltung eingesetzt werden können. Dazu braucht es eine Transformation bei den Verwaltungen, aber auch bei der Gesetzgebung. Diesen Transformationsprozess wollen wir beschleunigen. Zum Beispiel unterliegt man bei digitalen Identitäten bei öffentlichen Verwaltungen strengeren Vorgaben als in anderen Branchen. Bei der öffentlichen Hand geht es nicht wie teilweise in der Privatwirtschaft darum, mit Innovationen neue Märkte zu erschliessen. Denn was der Bürger erwarten darf, ist weitgehend definiert durch gesetzliche Vorgaben. Oder um es anders zu formulieren: Allein durch Innovationstechnologien erschliessen sich für Abraxas nicht automatisch neue Geschäftsfelder.
Wie erkennt ihr denn konkret Markt- und Technologietrends, die für eure Kunden von Bedeutung sind?
Werder: Wir haben letztes Jahr den Abraxas-Trendradar eingeführt. Wir sichten zunächst aus der ganzen Informationsflut an Expertenmeinungen und Berichten von Markt- und Trendforschungsinstituten die Trends und bewerten sie auf die Relevanz für die öffentlichen Verwaltungen. So filtern wir heraus, wo mögliche Geschäftsfelder liegen. Hinzu kommt selbstverständlich die Sicht unserer Kunden, bei denen wir regelmässig gezielte Interviews durchführen. All diese Informationen bereiten wir auf, um die Bedürfnisse der Kunden, in die wir in den nächsten circa 10 Jahren investieren wollen, als eine Art Umsetzungsplan auf eine Zeitachse zu bringen.
Pereira: Der Trendradar wird laufend neu überarbeitet. Sobald wir sehen, dass ein Thema auf der Technologie- und auf der Kundenseite bereit ist und es ein Business Case ist für uns, werden wir darauf einsteigen. Um bei unseren Kunden konkrete Bedürfnisse zu erkennen, führen wir neu auch sogenannte Discovery-Workshops durch. Dabei diskutieren wir konkret, wo den Kunde aktuell der Schuh drückt oder in absehbarer Zukunft drücken wird. Daraus kann sich in einem nächsten Schritt zum Beispiel ein Pilotprojekt ergeben.
Werder: Auf der Fachapplikationsebene machen wir schon länger Health Checks, um konkrete Verbesserungswünsche bei den Dienstleistungen für die Kunden in Erfahrung zu bringen. Discovery-Workshops hingegen sind nicht an bestimmte Services gebunden. Hier geht es um technische Angelegenheiten oder um die konkrete Praxis. Zum Beispiel holen wir die Ideen der Kunden zum Einsatz von ChatGPT ab.
Welche konkreten grossen Innovationstrends in der IT hat Abraxas mit dem Trendradar erkannt und weshalb?
Werder: Wir haben sechs Megatrends identifiziert, die uns in den nächsten Jahren begleiten werden. Sie sind allesamt technisch auf sehr hohem Niveau angesiedelt. Diese sind digitale Transformation, Smart Surroundings, künstliche Intelligenz, Trust Technology, dezentralisiertes Computing und Future Skillset. Bei Trust Technology zum Beispiel geht es um nicht nur Informationssicherheit und Datenschutz, sondern auch um das digitale Empfinden unserer Kunden. Deshalb gehören in dieses Feld auch angrenzende Themen wie das Vertrauen in Technologien wie Green IT oder künstliche Intelligenz.
Pereira: Diese sechs Megatrends sind Sammelbecken für circa hundert Makrotrends, die wir bewerten. Mit dem Innovationsmanagement schliesslich konkretisieren wir den Trendradar. Wir identifizieren konkrete Produkte, die wir entwickeln, oder bestehende, die wir erweitern wollen. Zum Beispiel stufen wir ganz klar digitale Sicherheit als sehr wichtig ein. Es versteht sich von selbst, dass wir hier weiter investieren müssen. Dann gibt es Themen, die wir als Hot Topics identifizieren, die wir in den nächsten Jahren näher beobachten wollen, weil wir daran glauben, dass sie wichtig werden. Das fängt an bei Konzepten und strategischen Überlegungen bis hin zu konkreten Machbarkeitsnachweisen.
Könnt ihr für ein solches Hot Topic ein Beispiel geben?
Werder: Ein Beispiel wäre das Thema selbstsouveräne Identität. Also die Frage, welche Daten oder welche Zertifikate einem selbst gehören. In diese Richtung geht auch in Übereinstimmung mit dem Bund die elektronische Identität E-ID. Hier spielt das Sicherheitsempfinden unserer Kunden oder der Bürger hinein und dann natürlich die entsprechende Technologie als Basis für die Digitalisierung. Als Beispiel könnte man einen Strafregisterauszug nehmen, der heute auf Papier ausgestellt wird. Wir haben definiert, dass wir in den nächsten 2 bis 4 Jahren in diese Technologie investieren müssen. Denn wir werden für unsere Kunden
sicherstellen müssen, dass eine digitale Version eines Strafregisterauszugs auch tatsächlich immer echt ist.
Gibt es eine kritische Grösse für Gemeinden, ab der sich neue Transformations- oder Innovationsprodukte und -services rechnen? Kann sich zum Beispiel eine kleine Gemeinde überhaupt einen Chatbot leisten?
Werder: Wenn man von klein oder gross spricht, muss man unterscheiden, ob es sich um hoch standardisierte oder um spezifisch auf eine grössere Organisation zugeschnittene Services handelt. Unsere Aufgabe ist es, für die jeweiligen Bedürfnisse die entsprechenden Angebote bereitzustellen. Also ja, für eine kleine Gemeinde ist die für ihre Bedürfnisse notwendige Ausführung eines Chatbots durchaus bezahlbar, und die Gemeinden kaufen das Produkt auch. Ein Kunde mit erweiterten Bedürfnissen hat üblicherweise auch mehr IT-Ressourcen und kann, um beim Beispiel eines Chatbots zu bleiben, seine Prozesse, die er damit abbilden will, auch selbstständig aufmoderieren.
Pereira: Wir gehen dabei sogar einen Schritt weiter. Aktuell arbeiten wir an einem Machbarkeitsnachweis, um mit Machine Learning riesige Datenmengen einer Website zu verarbeiten und so viel mehr Fragen zu beantworten. Das Stichwort lautet hier LLM – ein Large Language Model oder sogenannt grosses Sprachmodell, das zum Einsatz kommen soll. Die Basis ist aber für alle Kundengruppen derselbe Service.
Zum Schluss vielleicht ein Blick in die fernere Zukunft. Welcher aktuelle Trend wird eurer Meinung nach die öffentlichen Verwaltungen von morgen wirklich innovativ beeinflussen?
Pereira: Ich sehe grosses Potenzial beim Thema Augmented Reality. Behörden und Verwaltungen könnten in einem Metaverse zum Beispiel Beratungsgespräche für Bedürfnisse anbieten, die mit App-Services nicht erfüllt werden können. Das könnten Gespräche mit echten Verwaltungsangestellten oder je nach Fragestellung auch mit Avataren sein. Das Thema ist auf dem Trendradar identifiziert. Weil aber die Lösungen dafür noch nicht praktikabel genug sind, ist es auf der Zeitachse weiter hinten als «zu beobachten» platziert.
Über Markus Häfliger
Markus Häfliger ist Inhaber der auf Business-to-Business-IT spezialisierten PR-Agentur Häfliger Media Consulting. Er verfügt über jahrzehntelange Erfahrung mit Technologie- und Wirtschaftsthemen sowohl auf Agentur- als auch auf Medienseite. Er war Chefredaktor der IT-Branchenzeitschrift IT Reseller und von Infoweek (heute Swiss IT Magazine), der Zeitschrift für IT-Entscheider in Unternehmen. Er publiziert als Ghostwriter regelmässig in namhaften Industrie- und Wirtschaftsmedien Fachartikel und Berichte zu IT-Anwendungen in der Praxis. Für das Abraxas-Magazin verfasst er das «Digitale ABC», eine fortlaufende Artikelserie im Lexikon-Stil.