Die Schweiz geniesst international hohes Ansehen für ihre Tradition der direkten Demokratie, die auf starker Bürgerbeteiligung basiert. In den letzten Jahren haben digitale Technologien neue Möglichkeiten zur Weiterentwicklung dieses demokratischen Modells geschaffen. Von der elektronischen Stimmabgabe über die digitale Unterschriftensammlung bis hin zu lokalen Civic-Tech-Plattformen und KI-gestützter Deliberation: Die Schweiz integriert digitale Werkzeuge vorsichtig, aber stetig in ihr politisches System. Dieser Artikel beleuchtet zentrale Entwicklungen in drei Bereichen: E-Voting, E-Collecting und Civic Tech.
Prof. Dr. Fabrizio Gilardi zu E-Voting, E-Collecting, Civic Tech und KI (Video: Samuel Näf)
E-Voting trägt zu Stabilität bei
Seit dem Jahr 2000 erprobt die Schweiz das elektronische Abstimmen (E-Voting), mit dem Ziel, die politische Teilhabe zu erleichtern, insbesondere für Auslandschweizerinnen und -schweizer. Sicherheitsbedenken und Zweifel an der Systemintegrität führten jedoch 2019 zu einem landesweiten Stopp der E-Voting-Versuche.
In der Folge wurde das Vorgehen überarbeitet und strengere Anforderungen an Sicherheit und Transparenz eingeführt. Nach umfassenden Verbesserungen und Prüfungen wurden 2023 erste Pilotversuche wieder aufgenommen. Die Kantone Basel-Stadt, St. Gallen und Thurgau starteten neue Projekte mit einem überarbeiteten, voll verifizierbaren System der Schweizerischen Post. Dieses erlaubt es Wählenden wie auch unabhängigen Prüfstellen, die korrekte Erfassung und Auszählung der Stimmen zu überprüfen, ohne das Stimmgeheimnis zu verletzen. Zur Vertrauensbildung und Fehlererkennung wurden unter anderem gezielte Hacking-Tests durchgeführt, bei denen Fachleute aus der Öffentlichkeit Schwachstellen aufdecken sollen. Ende 2023 erhielt auch der Kanton Graubünden die Zulassung für Versuche mit diesem System. Diese Entwicklungen markieren einen vorsichtigen, aber gezielten Schritt hin zur Wiedereinführung des E-Voting in der Schweiz.

«Digitale Mittel vereinfachen die Prozesse und verbreitern die Beteiligung, garantieren aber keinen Erfolg.»
Ursprünglich erhoffte man sich durch E-Voting eine höhere Stimmbeteiligung, da es die Stimmabgabe bequemer macht. Studien zeigen jedoch, dass erste Versuche vor allem zu einer Verlagerung von der Brief- zur Online-Stimmabgabe führten, die Gesamtbeteiligung aber kaum veränderten. Besonders geschätzt wurde E-Voting von Auslandschweizerinnen und -schweizern, für die es eine deutliche Erleichterung bedeutete. Auch Personen, die sonst eher selten abstimmen, beteiligten sich etwas häufiger. Ihre Teilnahme stieg um 1.5 bis 3 Prozentpunkte. Zwar ist der Effekt insgesamt begrenzt, doch gibt es Hinweise dafür, dass E-Voting langfristig zur Herausbildung stabiler Abstimmgewohnheiten beitragen kann. Besonders deutlich zeigt sich das bei Stimmberechtigten mit logistischen Hürden: Nach der vorübergehenden Sistierung des E-Voting-Systems 2015 sank die Beteiligung der Auslandschweizerinnen und -schweizer um fünf Prozentpunkte. Dies unterstreicht, dass E-Voting vor allem für spezifische Gruppen mit Zugangshürden einen echten Mehrwert bietet, auch wenn es die Gesamtbeteiligung nur begrenzt erhöht.
E-Collecting stärkt politische Teilhabe
Parallel zu den Bemühungen im E-Voting kam es 2024/25 zu einer schweren Vertrauenskrise bei der Sammlung von Unterschriften für Referenden und Initiativen. Untersuchungen deckten auf, dass private Sammelunternehmen systematisch Tausende Unterschriften gefälscht hatten. Der Skandal erschütterte das Vertrauen in ein zentrales Element der direkten Demokratie und zeigte erhebliche Schwächen des bislang als sicher geltenden papierbasierten Verfahrens auf.
Als Reaktion beschleunigten Bundesrat und Parlament die Einführung sicherer digitaler Methoden zur Unterschriftensammlung. Ein zentrales Element ist die künftige nationale elektronische Identität (E-ID), mit der sich Bürgerinnen und Bürger online identifizieren können. Die Kombination von E-ID und elektronischer Unterschriftensammlung («E-Collecting») soll Betrug verhindern, indem die Authentizität eindeutig und sicher überprüfbar ist. Die Digitalisierung verspricht zudem mehr Transparenz. Der Verlauf von Kampagnen wird nachvollziehbarer, Unterschriften sind verifizierbar, und der administrative Aufwand sinkt. Der Kanton St. Gallen wird ab 2026 als schweizweit erster Kanton Pilotversuche mit E-Collecting durchführen. Ende 2024 wurden dafür die gesetzlichen Grundlagen geschaffen, seit 2025 befindet sich das Projekt mit AGOV als Authentifizierungsdienst und Abraxas als Dienstleisterin in Umsetzung.
Zudem kann E-Collecting die politische Teilhabe in der Schweiz stärken. Die elektronische Abgabe vereinfacht einen bislang für die Sammelkomitees aufwändigen Prozess und senkt die Hürden für die Mitwirkung. Die Umsetzung verzögerte sich jedoch durch regulatorische Hürden und Sicherheitsbedenken. Erste Pilotprojekte scheiterten an Zweifeln zur elektronischen Signaturprüfung. 2021 kam es zu einem weiteren Rückschlag, als das Stimmvolk ein E-ID-Gesetz ablehnte, das auf private Anbieter setzte. Trotz der weiterhin geltenden Pflicht für physische Unterschriften hat E-Collecting bereits Potenzial bewiesen. Plattformen wie WeCollect unterstützen den digitalen Erstkontakt. Beim Referendum 2021 gegen das neue Anti-Terror-Gesetz stammten fast 30 Prozent der Unterschriften aus dem Umfeld dieser Plattform. Das zeigt: Digitale Werkzeuge können zur Mobilisierung beitragen, auch unter eingeschränkten Bedingungen. Allerdings sprechen die bisherigen Daten nicht dafür, dass sich in typischen Fällen in kürzester Zeit sehr grosse Mengen an Unterschriften gewinnen lassen, auch wenn es einzelne Ausnahmen gibt. Digitale Mittel können Prozesse vereinfachen und Beteiligung verbreitern, garantieren aber nicht automatisch eine hohe oder schnelle Sammlung. Die aktuellen Entwicklungen zeigen jedoch, dass E-Collecting trotz technischer und rechtlicher Hürden ein wichtiger Baustein für die Weiterentwicklung der direkten Demokratie sein kann, sofern Vertrauen, Sicherheit und Transparenz gewährleistet sind.
Civic Tech fördert partizipative Demokratie – lokal und mit KI
Auch auf kantonaler und kommunaler Ebene entstehen neue Formen digitaler Partizipation durch Civic-Tech-Projekte. Diese digitalen Plattformen sollen die politische Mitwirkung vereinfachen und fördern.
In Genf ermöglicht die Plattform Participer.ge.ch der Bevölkerung, sich online zu politischen Fragen zu äussern. Nutzerinnen und Nutzer können sich zu geplanten Vorlagen austauschen, Stellungnahmen einreichen oder eigene Ideen vorschlagen. Die Beteiligung wird so niederschwelliger, und mehr Menschen können sich in politische Prozesse einbringen. Auch andere Städte, darunter Zürich und Luzern, setzen auf solche Werkzeuge. Weit verbreitet ist beispielsweise die Plattform Decidim, ursprünglich aus Barcelona, die Beteiligungsprozesse wie Budgetentscheide oder Stadtentwicklungsprojekte unterstützt. In Zürich konnten Anwohnende im Projekt Quartieridee lokale Projekte vorschlagen und darüber abstimmen – von Gemeinschaftsgärten bis hin zur Umgestaltung öffentlicher Räume. Der Erfolg führte zur Ausweitung auf die gesamte Stadt unter dem Namen Stadtidee. Das Projekt zeigt den Willen Zürichs, partizipative Demokratie auf lokaler Ebene zu stärken. Solche Civic-Tech-Initiativen machen politische Teilhabe greifbarer und praxisnaher.
«KI kann politische Diskussionen verbessern: Polarisierung wird reduziert, Beteiligung erhöht, Echokammern werden aufgebrochen.»
Auch der Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) bietet neue Möglichkeiten für die digitale Demokratie. Zwei aktuelle Studien zeigen, wie KI politische Online-Diskussionen verbessern kann – etwa durch die Reduktion von Polarisierung, die Erhöhung der Beteiligung oder das Aufbrechen von Echokammern. Eine kürzlich in Science veröffentlichte Studie zeigt zeigt, dass KI-basierte Moderation die Diskussionsteilnehmenden dabei unterstützt, gemeinsame Werte zu erkennen. Die Gespräche verliefen dadurch konstruktiver und respektvoller. Entscheidend war eine transparente Umsetzung, bei der klar kommuniziert wurde, welche Rolle die KI einnimmt. Ergänzend zeigt eine aktuelle Studie, die ich gemeinsam mit Valeria Vuk und Cristina Sarasua an der Universität Zürich durchgeführt habe (Vuk, Valeria, Cristina Sarasua, and Fabrizio Gilardi. 2025. «LLM-Based Bot Broadens the Range of Arguments in Online Discussions, Even When Transparently Disclosed as AI.»; erscheint im Juni 2025), wie grosse Sprachmodelle (LLMs) die Vielfalt politischer Argumente erweitern können. ArgumentBot analysiert laufende Online-Debatten, identifiziert unterrepräsentierte Positionen und bringt diese gezielt ein. In einer Diskussion zu KI im Gesundheitswesen könnte das etwa ethische oder datenschutzrechtliche Aspekte betreffen. Die Studie zeigte, dass so neue Perspektiven eingebracht und die Vielfalt der Diskussion erweitert wurde. Die klare Kennzeichnung als KI beeinträchtigte die Wirkung nicht, ein positives Signal für den transparenten KI-Einsatz in demokratischen Kontexten.
«Vorsichtig, aber entschlossen – das ist der Schweizer Weg zu einer digitalen Demokratie.»
Fazit: Die Schweiz am digitalen Wendepunkt
Die Schweiz steht an einem Wendepunkt in der digitalen Weiterentwicklung ihrer Demokratie. Trotz offener Fragen in Bezug auf Sicherheit, Regulierung und Vertrauen wurden bereits wichtige Schritte unternommen, um politische Teilhabe digital zu erweitern, sicherer zu gestalten und inklusiver zu machen. Die Erfahrungen mit E-Voting, die Weiterentwicklung von E-Collecting sowie innovative Civic-Tech- und KI-Projekte zeigen einen vorsichtigen, aber entschlossenen Weg hin zu einer zeitgemässen Demokratie im digitalen Zeitalter.

Über Prof Dr. Fabrizio Gilardi
Fabrizio Gilardi ist Professor für Policy-Analyse am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich. In seiner Forschung untersucht er die Auswirkungen digitaler Technologien auf Politik und Demokratie. Seine Arbeit wird durch renommierte Förderprogramme unterstützt und in führenden internationalen Fachzeitschriften veröffentlicht.