Wer bauen will, eine Parkkarte benötigt oder Steuern zahlt, kontaktiert die Behörden zunehmend digital. Vieles lässt sich heute bequem am Smartphone oder PC erledigen; der Gang an den Schalter wird seltener. «Wir verfügen punktuell über sehr gute Dienstleistungen», sagt Dirk Lindemann, Direktor des Bundesamts für Informatik und Telekommunikation (BIT). Als Beispiel erwähnt er die Möglichkeit, die Mehrwertsteuer online abzurechnen. «Das Verfahren ist effizient und kundenfreundlich.» Verbesserungspotenzial ortet er bei der Durchgängigkeit: Viele Services können noch nicht schweizweit genutzt werden. Im Föderalismus sieht Lindemann in erster Linie Vorteile. Dank dem Wettbewerb verfolgten die Kantone unterschiedliche Ideen und könnten voneinander lernen. Gute Lösungen – wie eUmzugCH – setzten sich durch. «Es entsteht eine gewisse Dynamik», so der BIT-Chef. Insgesamt müsse die Schweiz den internationalen Vergleich nicht scheuen. «Andere Länder, auch zentral organisierte, stehen etwa am gleichen Punkt.»
Wettbewerb bei digitalen Projekten erschwert schweizweite Services
Kritisch äussert sich Nicolas Zahn, Digital Trust Expert bei der Swiss Digital Initiative (SDI). Die Liste erfolgreicher E-Government-Angebote bleibe einigermassen überschaubar. Die Staatsorganisation sei ein Grund dafür: «Der Föderalismus erschwert es, digital voranzukommen – er erweist sich als Fortschrittsbremse.» Das Argument eines konstruktiven Wettbewerbs erfülle sich bei der Digitalisierung nicht. «Nach negativen Erfahrungen sind die Kantone eher in der Defensive.» Sie könnten wenig gewinnen,
aber Steuergeld verlieren oder für negative Schlagzeilen sorgen. Wenn man zu durchgängigen E-Services gelangen wolle, sei es sowieso nicht zielführend, wenn sich 26 Stände voneinander abgrenzten. Dies verhindere Interoperabilität. «Man muss das Rad nicht immer neu erfinden», findet Zahn. Dass mehrere Kantone für das gleiche Problem IT-Lösungen entwickelten, sei ineffizient und teuer. Gefragt seien stattdessen Mindeststandards sowie eine gute Vernetzung und Zusammenarbeit.
Nähe als Chance: Impulse aus der Bevölkerung, Wirtschaft und Wissenschaft
Um diese zu stärken, haben Bund und Kantone per 2022 die Digitale Verwaltung Schweiz (DVS) ins Leben gerufen. Die Organisation ist operativ und politisch tätig. Sie vernetzt behördenübergreifend, stimmt ab und treibt Schlüsselprojekte voran, um zu dringend benötigten Infrastrukturen und Basisdiensten zu gelangen. «Wir wollen die digitale Transformation über die drei Staatsebenen hinweg rascher und wirkungsvoller machen», sagt Peppino Giarritta, Beauftragter von Bund und Kantonen für die DVS. Aktuell unterstützt die DVS insbesondere die Arbeiten für eine staatliche E-ID, indem sie unter anderem Pilotprojekte umsetzt. Sie fördert das föderale Datenmanagement und prüft Grundlagen für die Nutzung der Cloud-Technologie. Die Politik habe die digitale Transformation der Verwaltung auf die Agenda gesetzt, sagt Giarritta. Er amtet gleichzeitig als Präsident des Vereins eCH, der als Public Private Partnership aufgebaut ist und Standards im Bereich E-Government erarbeitet. «Man darf Digitalisierung nicht als Top-down-Prozess verstehen», betont er. Nähe könne eine Chance sein. «Wesentliche Impulse kommen aus der Bevölkerung, der Wissenschaft und der Wirtschaft – der Einbezug aller Akteure ist ein entscheidender Erfolgsfaktor.»
Digitale Verwaltung Schweiz
Die Digitale Verwaltung Schweiz (DVS) steht ganz in der föderalen Tradition der Zusammenarbeit zwischen und innerhalb der drei Staatsebenen. Die Digitalisierungsaktivitäten von Bund, Kantonen und Gemeinden werden von der Zusammenarbeitsorganisation gestaltet und koordiniert. Die DVS ist seit dem 1. Januar 2022
operativ tätig. Die Geschäftsstelle wird vom Beauftragten von Bund und Kantonen für die DVS, Peppino Giarritta, geführt und befindet sich im Haus der Kantone in Bern.
Kantone setzen eigene Ideen um – kurze Wege helfen dabei
Die DVS intensiviere den Austausch, sagt Eva-Maria Boretti, Leiterin des Kompetenzzentrums Digitale Verwaltung im Kanton Thurgau und Mitglied des operativen Führungsgremiums der DVS. «Das ist ein Schritt, um vorwärtszukommen. » Das föderale System ermögliche es den Kantonen, eine starke Rolle zu übernehmen. «Sie können eigene Prioritäten setzen und Dinge ausprobieren.» Überschaubare Strukturen und kurze Entscheidungswege kämen ihnen entgegen. Positive Impulse würden rasch aufgenommen. Bis sich eine Entwicklung schweizweit durchsetze, brauche es jedoch Zeit. «Dafür stimmt dann die Qualität.»
Aufgabe der DVS sei es nun, diesen Prozess zu bündeln und zu steuern. Christian Geiger, Chief Digital Officer der Stadt St. Gallen, nennt die gleichen Chancen der föderalen Staatsform. «Es führt zu überzeugenden Resultaten, wenn innerhalb gewisser Standards ein gewisser Wettbewerb besteht.» Standards zu nutzen, zahle sich aus. «So erspart man sich den Aufwand, proprietäre Schnittstellen zu bauen.» Die Verantwortlichen der Stadt St. Gallen tauschen sich je nach Thema mit anderen Beteiligten – etwa in kantonalen Gremien, dem Schweizerischen Städteverband oder interkommunalen Arbeitsgruppen – aus. Geiger begrüsst es, dass die DVS diesen Dialog nun institutionalisiert. Er vertritt im neuen Gremium die Anliegen der Städte und erwartet, «dass sich die DVS dort engagiert, wo national durchgängige Lösungen wesentlich sind und grosser Abstimmungsbedarf grundlegend ist». Dazu zählten Basisdienste wie eine elektronische Identität.
Eine E-ID würde «einen kräftigen Schub» geben Nachdem ein erstes Konzept im März 2021 scheiterte, ist der Bund daran, die Grundlagen für eine staatliche E-ID zu schaffen. Nach den Sommerferien wird die Botschaft zum Bundesgesetz über elektronische Identifizierungsdienste (BGEID) erwartet. 2025 soll die digitale Identität gemäss BIT-Direktor Lindemann zur Verfügung stehen. «Eine E-ID würde dem E-Government einen kräftigen Schub geben», sagt Kathrin Kölbl, Geschäftsleitungsmitglied von Abraxas. Diese Erfahrung hätten etwa die baltischen Staaten und Holland gemacht. Dem Föderalismus attestiert die Leiterin Account- & Service Management «gute und schlechte Seiten». Er erlaube es einzelnen Kantonen und Gemeinden, innovativ zu sein. Auf das Tempo der Transformation schweizweit wirke er sich aber negativ aus. «Die öffentliche Verwaltung ist digital noch nicht dort, wo ich es mir als Kundin wünschen würde.»
Andreas Schmid, Vizeammann von Lenzburg, verweist auf unterschiedliche Voraussetzungen. Um Dienste der Verwaltung zu digitalisieren und Prozesse anzupassen, brauche es Know-how und finanzielle Mittel. «Kleine Gemeinden stossen da an Grenzen.» Umso wichtiger sei es, über die drei Staatsebenen hinweg «auf Augenhöhe» zusammenzuarbeiten. IT-Projekte müssten auf die Nutzerinnen und Nutzer fokussieren. Diese erwarteten einfache und durchgängige Services. Welche Ämter im Hintergrund involviert seien, interessiere sie weniger. Gerade in einem föderalen System seien Standards essenziell, sagt Schmid. «Wir sind darauf angewiesen, dass unsere IT-Lösungen anschlussfähig sind.»
Herausforderung: Vom Kunden aus denken und Prozesse anpassen
Seit 2020 gilt in der Schweiz der Grundsatz «digital first». Bund, Kantone und Gemeinden sind aufgefordert, Informationen und Dienste möglichst online anzubieten. Leitlinien finden sie in der «Strategie Digitale Schweiz 2020–2023», die jährlich zwei, drei Schwerpunkte setzt. In diesem Jahr sind es folgende Themen: «Digitalisierungsfreundliches Recht», «Digitalisierung im Gesundheitsbereich» und «Digitale Souveränität». An strategischen Vorgaben für die Jahre von 2024 bis 2027 wird zurzeit gearbeitet. Wie das Branchenportal inside-it.ch kürzlich berichtete, sollen Verwaltungen intern künftig das Prinzip «digital only» verfolgen. Auch Prozesse gegenüber der Wirtschaft sollen vollständig digital vollzogen werden.
Die Bevölkerung müsse sich unter der Digitalisierung etwas vorstellen können, sagt Eva-Maria Boretti. «Digitale Strategien dürfen keine Papiertiger bleiben.» Die öffentliche Hand sei herausgefordert, umzudenken und sich auf Lernprozesse einzulassen. Verwaltungen müssten teilweise ihre Prozesse anpassen. «Im Fokus steht die Kundschaft. Man digitalisiert nicht einfach das, was schon da ist.» Solche Veränderungen lösten Widerstand aus, sagt Digitalisierungsexperte Nicolas Zahn. «Man sträubt sich, Dinge
anders zu denken.» Häufig würden Behörden erst in Krisen aktiv. So sei es in der Pandemie möglich geworden, eine Bewilligung für Kurzarbeit online zu beantragen. In der Energiekrise sei ein Dashboard mit aktuellen relevanten Informationen entstanden. «Leider ist der Druck jeweils schnell wieder weg.»
Es mangle nicht an Engagement, entgegnet Dirk Lindemann. Das Covid-Zertifikat sei ein «positives Beispiel dafür, wie dezentrale Services schweizweit verbunden werden können». Der Bund investiere viel Arbeit und Geld in die digitale Transformation. Er übernehme eine immer aktivere Führungsrolle und stelle den Kantonen und Gemeinden wichtige Infrastrukturen bereit. Das Bedürfnis der Bevölkerung, Online-Services zu nutzen, werde weiter zunehmen und entsprechende Kosten verursachen, sagt Lindemann. «Ein intensiver Austausch und eine hohe Standardisierung werden sich auszahlen.»
Über Eveline Rutz
Eveline Rutz ist freie Journalistin. Sie schreibt vor allem über politische, wissenschaftliche und gesellschaftliche Themen.