Digitale Demokratie im Versuchslabor

Wie kann politische Mitsprache mit digitalen Mitteln gestärkt werden? Ein Forschungsteam der Universität Bern hat in der «Demokratiefabrik» neue Beteiligungsformen erprobt – und dabei rund 2'000 zufällig ausgewählte Bürger:innen in politische Prozesse eingebunden. Die Ergebnisse zeigen: Digitale Beteiligung funktioniert – wenn sie inklusiv, diskussionsbasiert und bottom-up gestaltet ist.

Von Marlène Gerber, Dr.rer.soc. · 15. Mai 2025

In den letzten Jahrzehnten wurden weltweit neue Beteiligungsformen entwickelt, um politischen Teilhabe zu erweitern. Auch in der Schweiz erhalten sogenannte demokratische Innovationen Auftrieb, darunter etwa Bevölkerungsräte. In einem Bevölkerungsrat diskutieren zufällig ausgewählte Personen aktuelle politische Fragen und verabschieden gegebenenfalls Informationen oder Empfehlungen zuhanden der Behörden oder einer breiten Öffentlichkeit.

Die meisten dieser demokratischen Innovationen fanden bislang vor Ort statt und sind bereits gut erprobt.

Obwohl die Digitalisierung zahlreiche Chancen zur Belebung der politischen Teilhabe bieten könnte, ist das Angebot digitaler Beteiligungsformate heute noch recht gering. Im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 77 «Digitale Transformation» erhielt ein bei «Année Politique Suisse» angesiedeltes Forschungsteam die Gelegenheit, neue digitale Formate in zwei Fallstudien auszutesten.

Über das Forschungsprojekt

Die Demokratiefabrik entstand im Rahmen des SNF-Projektes «Digital Democratic Innovations to Empower Citizens in the Digital Age» (Projekt-Nr. 187496), das in das Nationale Forschungsprogramm «Digitale Transformation» (NFP77) eingebettet war. Am Projekt beteiligt waren Marc Bühlmann, Marlène Gerber, Anja Heidelberger (Projektverantwortliche), Dominik Wyss (Postdoc/Entwickler Demokratiefabrik), Giada Gianola (Doktorandin) sowie Viktoria Kipfer und Catalina Schmid (Hilfsassistentinnen). Das Forschungsprojekt wurde betreut vom Team von «Année Politique Suisse», der Chronik der Schweizer Politik, am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Bern.

Die zwei Fallstudien

In einer ersten Fallstudie erarbeiteten Wahlberechtigte der Gemeinde Köniz auf einer eigens dafür konzipierten Online-Plattform mit dem Namen «Demokratiefabrik» für die Online-Wahlhilfe smartvote einen Fragekatalog, der im Rahmen der Könizer Gemeinderatswahlen vom Herbst 2021 zum Einsatz kam. In einer zweiten Fallstudie erstellten Deutschschweizer Stimmberechtigte im Vorfeld der Abstimmung zum Klima- und Innovationsgesetz (KIG) im Frühjahr 2023 in der Demokratiefabrik ein Argumentarium mit Pro- und Contra-Argumenten. Dieses wurde ausgewählten Stimmberechtigten zugestellt. Jeweils etwas über 1'000 zufällig ausgeloste Personen haben sich an den beiden Fallstudien beteiligt.

Die Chancen digitaler Beteiligungsformate

Mit der Demokratiefabrik bezweckte das Forschungsteam, drei postulierte Chancen von digitaler Beteiligung durch eine speziell dafür konzipierte Online-Lösung auszutesten:

Mehr demokratische Mitsprache (Empowerment): Die Teilnehmenden der Demokratiefabrik arbeiteten bottom-up und weitgehend autonom am smartvote-Fragebogen und am Argumentarium zum KIG. Im Unterschied zu klassischen Bevölkerungsräten erhielten sie also nur minimale Inputs von Expert:innen. Digitale Lösungen bergen das Potential, möglichst viele Personen aktiv in die co-kreative Erarbeitung eines Produktes einzubeziehen. Die Demokratiefabrik setzt also sozusagen auf die Weisheit der Vielen.

Diskussionsbasierte Beteiligung: Demokratische Innovationen erachten den Austausch unterschiedlicher Argumente als Basis für eine fundierte Meinungsbildung. Um einen möglichst breiten Austausch von unterschiedlichen Meinungen zu ermöglichen, wurden die Leute zufällig zu Beiträgen und Aufgaben zugewiesen. In der zweiten Fallstudie wurden die Teilnehmenden zudem mit digitalen Medaillen belohnt, wenn sie sich mit anderen Positionen auseinandersetzten.

Inklusive Beteiligung: Um allen eine faire Chance zur Beteiligung zu geben, wurden Personen per Los zur Teilnahme eingeladen. Als asynchrone Online-Plattform erfolgte die Teilnahme orts- und zeitunabhängig, was die Beteiligung für beruflich oder privat weniger abkömmliche Personen erhöhen sollte. Nicht zuletzt agierten die Teilnehmenden anonym. Den Personen wurden als Pseudonyme Bergnamen zugeschrieben, was stereotype Verhaltens- und Interpretationsmuster minimieren sollte. Ein digitales Beteiligungsformat verspricht ferner einen stärkeren Einbezug von der ansonsten in der Politik eher untervertretenen jungen Bevölkerung. Um auch digital weniger affine Personen einzubinden, führte ein KI-Moderationsteam durch die Demokratiefabrik.

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Forschungserkenntnisse

In der ersten Fallstudie zeigte sich ein vergleichsweise hohes Interesse an der digitalen Beteiligung – 12 Prozent der Eingeladenen nahmen ohne finanzielle Entschädigung teil. In beiden Projekten beteiligte sich ein Grossteil der Teilnehmenden durch Gutachtertätigkeit oder eigene Beiträge aktiv und eine Vielzahl von Fragen respektive Argumenten wurden vorgeschlagen.

Trotz ausgebauter direktdemokratischer Beteiligungsmöglichkeiten scheint das Interesse an zusätzlicher Mitsprache in der Schweiz folglich hoch zu sein.

Ergebnisse zur zweiten Fallstudie legen nahe, dass das Engagement in der Demokratiefabrik zur Förderung des Verständnisses zwischen dem Pro- und Contra-Lager des Klima- und Innovationsgesetzes (KIG) beigetragen hat: Teilnehmende der Demokratiefabrik beschrieben das gegnerische Lager nachträglich mit weniger negativen Worten als die Kontrollgruppe, die nicht an der Demokratiefabrik teilnehmen konnte.

Herausforderungen verbleiben hingegen bei der Inklusion. In der Fallstudie zum smartvote-Fragebogen liessen sich Personen, die sich politisch eher rechts verorten, weniger gut mobilisieren. Wie bei Wahlen und Abstimmungen waren höher gebildete und politisch interessierte Personen in beiden Fallstudien überrepräsentiert, während 18- bis 25-Jährige insbesondere in der zweiten Fallstudie untervertreten blieben. Einmal zur Teilnahme entschlossen, beteiligten sich die verschiedenen Personengruppen hingegen ähnlich aktiv.

Hervorzuheben ist nicht zuletzt, dass die digital fabrizierten Produkte sich von herkömmlichen unterscheiden. So finden sich im smartvote-Fragebogen mehr alltagsnahe, dafür weniger politisch stark bewirtschaftete Fragen. Das Argumentarium, das die Sicht einzelner Stimmbürger:innen widerspiegelt, wurde laut repräsentativer Umfrage von den meisten nicht beteiligten Personen dennoch als legitim erachtet.

Marlène Gerber

Über Marlène Gerber

Dr.rer.soc. Marlène Gerber ist Co-Direktorin von Année Politique Suisse am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern. Seit ihrer Dissertation erforscht sie diskussionsbasierte Formen der politischen Beteiligung. Neben (digitalen) demokratischen Innovationen interessiert sie sich mit der Landsgemeinde auch für traditionelle Formen der politischen Partizipation.