
Es gibt keine Regale voller Ordner oder Bücher, keine Papierstapel bei dem Mann, der sich zum Thema «digitale Demokratie» äussern soll. Stattdessen: ein langer Besprechungstisch und die künstlerische Interpretation einer historischen St. Galler Urkunde an der Längswand – das Büro von Benedikt van Spyk, dem Staatssekretär des Kantons St. Gallen, wirkt aufgeräumt und offen. Er fungiert als Scharnier zwischen der Exekutive und der Legislative und berät die Regierung und das Präsidium des Kantonsrates. Der 45-jährige Jurist selbst charakterisiert sich als «Transmissionsriemen» und sagt einleitend, er sei seit seiner Jugend fasziniert von Computern und bis heute sehr digitalaffin.
Entsprechend interessant ist sein Verständnis der Chancen und Möglichkeiten der Digitalisierung des Kantons und der Demokratie im Allgemeinen. «Ich glaube, dass die Digitalisierung die Demokratie ganz fundamental herausfordern und verändern wird», antwortet er auf die Frage und erläutert: «Der Hauptaspekt ist die Verfügbarkeit und Vermittlung von Informationen. Die Verfügbarkeit der Informationen hat durch die Digitalisierung enorm zugenommen. Dies ist ihr grösster Nutzen.» Damit habe auch das Risiko von Fake News zugenommen und die Möglichkeit der Beeinflussung mit diesen. Das grösste Risiko sei die Informationsflut. «Informiert sein, worüber man mitentscheiden soll, ist der Kern einer Demokratie.»
Benedikt van Spyk, Staatssekretär des Kantons St. Gallen, im Videointerview zu digitaler Demokratie. (Video: Samuel Näf)
Grosse Chancen bei der elektronischen Beteiligung
Van Spyk setzt die Chancen einer digitalisierteren Demokratie auf die Traktandenliste: «Die digitalen Tools vereinfachen die Beteiligungsmöglichkeiten und senken die Hürden, sich zu relevanten Themen einzubringen. Da liegt ein grosses Potenzial.»
Gerade bei der E-Partizipation und der Diskussion in Gemeinden sieht er grosse Chancen. Die Technologie könne dafür auch stärker eingesetzt werden. Sofort stellt sich die Frage nach dem Nutzen, speziell bei demokratischen Kernprozessen wie E-Voting und E-Collecting. Werden sie die Partizipation nicht nur erleichtern, sondern auch erhöhen? «Das aktuelle Ziel von E-Voting und E-Collecting ist nicht primär die höhere Beteiligung. Ich würde die These nicht unterstützen, dass die Stimmbeteiligung mit E-Voting ansteigt.» Es gebe andere Vorteile, die für E-Voting sprächen.
«Es gibt keine verspätete oder ungültige Stimmabgabe», leitet er seine Argumentation ein. Die eigene Stimme sei nicht in einem Briefkasten deponiert, sondern sofort in einer elektronischen Urne verschlüsselt abgelegt und bereit, um sie auf Knopfdruck zu zählen. Dies sei ein anderer und «x-fach effizienterer Prozess, als wenn Papier gedruckt, eingepackt, versandt, ausgepackt und ausgezählt wird, und er hat natürlich eine viel höhere Qualität». Zweitens sei es ein zusätzlicher Kanal und komplett vom brieflichen Stimmen getrennt. «Es ist ein anderer Prozess und es sind andere Personen involviert. Entsprechend nimmt die Möglichkeit ab, eine Abstimmung zu manipulieren. E-Voting erhöht also die Stabilität und Sicherheit insgesamt.»

«Ich bin ein Transmissionsriemen.»
Benedikt van Spyk und die Staatskanzlei
Die Staatskanzlei ist als Stabsstelle von Kantonsrat und Regierung eine zentrale Schaltstelle in der kantonalen Staatsverwaltung. Sie hat ihren Sitz im Regierungsgebäude und kümmert sich zum Beispiel um Themen wie Begleitung und Unterstützung der Regierung und des Kantonsrates und seiner Gremien, digitale Transformation, politische Rechte, Datenschutz oder die Rechtsetzung.
Dr. iur. RA Benedikt van Spyk ist seit 1. Juni 2020 Staatssekretär und leitet die Staatskanzlei mit 93 Mitarbeitenden. Zuvor war er Leiter Recht und Legistik bei der Staatskanzlei Kanton St. Gallen. Er sass für die FDP im Stadtparlament St. Gallen und nahm Einsitz in verschiedenen strategischen Leitungsorganen von
privaten und öffentlichen Institutionen und Unternehmen. Er ist in St. Gallen wohnhaft und Vater von zwei Kindern.
Erfahrungen mit E-Voting ermöglichen E-Collecting
Dabei hätten die kritischen Debatten rund um die Sicherheit von E-Voting gleichzeitig dazu geführt, dass die Verwaltung nun über ein grösseres Know-how zu Cybersicherheit verfüge. «Dies ermöglicht es nun, auch das Thema E-Collecting anzugehen.»
Dieses digitale Sammeln von Unterschriften für Initiativen oder Referenden habe eigene Ziele. «Bei einer Unterschriftensammlung ist die demokratische Hürde eingebaut, dass man genügend Unterstützung und damit die demokratische Legitimation für ein Anliegen findet. Wenn wir das Sammeln elektronisch vereinfachen, stellt sich die Frage: Was bedeutet das für die Sammelfrist oder für die Anzahl der benötigten Unterschriften?»
Die Antworten kenne niemand, doch dürfe dies nicht dazu führen, E-Collecting zu verwerfen. «Das war die Motivation des Kantons St. Gallen, um E-Collecting zu starten. Wir haben zudem das Know-how bezüglich Sicherheit, und als Kanton sind wir nicht so stark exponiert wie der Bund.»
Der Kanton hat nun eine siebenjährige Pilotphase festgelegt, während der aktuell je die Hälfte der gültigen Unterschriften analog und digital gesammelt werden müssen. «Anschliessend werten wir das Projekt wissenschaftlich begleitet aus», erläutert van Spyk. «Das bildet eine gute Grundlage, um über Unterschriftenzahlen zu diskutieren und E-Collecting auch auf Bundesebene einzuführen.»
Er weist darauf hin, dass es vergleichsweise leicht sei, händische Unterschriften zu fälschen, und die Lagerung der Unterschriftenbögen vor deren Einreichung sei nicht zwingend sicher.
«Die Digitalisierung ist eine Realität»
Abraxas spielt bei der der «digitalen Demokratie» zugrunde liegenden Infrastruktur eine wichtige Rolle im Kanton St. Gallen. Zum einen mit dem zentralen Personenregister, das aktuell kantonsweit eingeführt wird. Zum andern mit der Entwicklung der Lösung, mit welcher der Kanton per Anfang 2026 E-Collecting einführen wird.
Van Spyk steht hinter diesen Pionierleistungen. «Die Digitalisierung können wir gut oder weniger gut finden. Aber sie ist Realität. Darum muss die Frage lauten: Was bedeutet sie im demokratischen Prozess? Wie gestalte ich sie? Wie begleite ich sie? Welchen Dialog braucht es? Welche Tools setze ich ein, wie und mit welchem Bewusstsein?»

«Die Digitalisierung fordert die Demokratie fundamental heraus – und verändert sie.»
Was auf Papier leichter fällt und was digital
Auch beim persönlichen Umgang mit digitalen Instrumenten fällt auf, wie differenziert, pragmatisch und positiv van Spyk eingestellt ist. «Ich bin ein aktiver, selbstbestimmter und selbstbewusster Anwender», sagt er und erzählt, dass er mit 13 einen damals sehr modernen PC mit 2 MB RAM und 125 MB Harddisk übernehmen durfte, auf dem man einen Mac simulieren, ein Grafikprogramm und zwei Atari-Spiele nutzen konnte. «Ich befasste mich mit diesem Gerät sehr intensiv, auch für die Schule. Ich war der Erste, der die Schulstunden digitalisiert hat.»
Privat lese er gerne ein Buch, News konsumiere er rein elektronisch. Die eigene Mitarbeitendenzeitschrift findet er gedruckt besser. «Es ist eine pragmatische Mischung», erklärt van Spyk. Digitale Informationen seien zwar oft schneller und günstiger gemacht als gedruckte, aber es bestehe ein Risiko, dass sie weniger sorgfältig produziert würden und «belangloser sein können».
Auch bei seiner Arbeit setzt er auf die richtige Mischung. Um ein Dokument sehr genau durchzuarbeiten, sei Papier besser. Auch wenn er eine Sitzung leite, wolle er keinen Laptop vor sich haben; auf Papier könne er sich leichter Notizen machen. Dokumente, welche Regierungssitzungen betreffen, bearbeite er elektronisch. Ausgenommen sei, was auf Papier archiviert werden müsse.
Aber immer bleibe er «gespannt, was neu dazukommt».


Über Marcel Gamma
Marcel Gamma arbeitet seit seiner Webmaster-Ausbildung 1998 praktisch ausschliesslich im Bereich IT- und Online-Kommunikation. Er ist Senior Communication Manager bei Abraxas. Zuletzt war er 5 Jahre Chefredaktor von inside-it.ch und inside-channels.ch, davor Kommunikationsverantwortlicher des Verbands swissICT, Ressortleiter der Aargauer Zeitung, Consultant bei einer Full-Service-Webagentur und Content Coordinator und Online-Journalist bei bluewin.ch.