Mit Avatar im Bundeshaus

SP-Nationalrat Islam Alijaj, ist ein Neuling im Parlament und setzt bereits Akzente für Menschen mit Behinderungen. Er denkt weiter: Der Digitalnerd sieht Technologie als Chance zum Ausgleich fehlender Fähigkeiten. Die KI hilft vielleicht auch ihm in Zukunft, sich verständlich auszudrücken.

Von Bruno Habegger · 23. Mai 2024

Ohne Digitalisierung gibt es keine inklusive Gesellschaft. Islam Alijaj
Der 37-jährige, aus Kosovo stammende Islam Alijaj ist seit Geburt durch eine Zerebralparese behindert, was ihn körperlich und in seiner Sprechfähigkeit einschränkt, kognitiv jedoch nicht. Im Herbst 2023 wurde er vom Listenplatz 11 aus für die SP in den Nationalrat gewählt. Er lebt in Zürich, ist verheiratet und Vater von zwei Kindern (6 und 10). (Bild: Florian Brunner)

Zu Beginn seines Lebens in Kosovo hatte er ganz analoge Probleme. Sein Verstand steckte in einem durch Zerebralparese lädierten Körper, eine Schädigung der Hirnentwicklung, bei ihm durch einen Sauerstoffmangel bei der Geburt. Sein Weg ins Leben begann somit auf dem Boden. «Ich konnte sitzen und kriechen. Das war alles», schreibt er in seiner Autobiografie. Sein Verstand jedoch flog. Grosse Träume, grosse Ideen. Erst spät im ersten Schuljahr erhielt er seinen Rollstuhl, ein sichtbares Zeichen für die Realität. «Islam hat eine Behinderung», fasst er im Buch zusammen. Sie hat ihn nicht am Leben und an seiner Karriere gehindert.

Vom Boden in den Nationalrat

Was macht das Leben mit einem, der im Rollstuhl sitzt, der unverständlich spricht, ständig an die Hindernisse einer Gesellschaft stösst, die das Gesunde vom Kranken, das Intelligente vom Dummen trennt und stets vergisst, dass die Grenzen fliessend sind? Fast jeder Mensch ist im Laufe seines Lebens auf Unterstützung angewiesen. Darum ist er hier. Darum hat er sich ins Leben gehievt, in die Politik, ist laut und unbequem geworden. Nicht weniger als eine Revolution will er, Islam Alijaj, der Unbescheidene. Eine Revolution der Behindertenbewegung nennt er es. Und andere im Parlament will er mit seiner Präsenz daran erinnern, dass es Menschen gibt, die nicht über dieselben Rechte verfügen. Wir sitzen im Bundeshaus, wo um uns Journalisten und Parlamentarierinnen, die Kaffee trinken, sich besprechen, Interviews führen. Wie wir. Islam Alijaj lacht. Er ist charmant und geistreich, das spürt man auch ohne Worte, die seine Sprechassistentin in verständlichere Laute übersetzt. Islam Alijaj. Seit letzten Herbst Nationalrat der SP. Und ein digitaler Mensch. Seine Liebe zur IT und vor allem zur Apple-Welt – «Ich bin ein Fanboy» – hat sich dank eines geschenkten Macs entwickelt, zu dem ihm im ersten Schuljahr seine Klassenlehrerin verhalf. Seither ist Steve Jobs sein Vorbild. Und die Bedienungshilfen bei allen Apple-Geräten findet er «legendär».

Die Chancen der Technologie

«Ohne Digitalisierung gibt es keine inklusive Gesellschaft», sagt er bestimmt. Sein Experiment mit einem Avatar und einer KI, die seine Stimme mit reiner Artikulation imitiert, zeigt, wohin es geht: «Die KI kann meine Behinderung egalisieren», sagt er. «Somit erreiche ich die Menschen direkt.» E-Mails tippt er nur mit einem Finger, das dauert ihm, der seit Kindertagen «in der Hölle der Langeweile» (Zitat aus der Autobiografie) und von ungeduldiger Natur ist, viel zu lange. Mit der KI werde hingegen vieles möglich, sobald sie ihn so gut wie seine menschlichen Sprechassistentinnen verstehen würde. Analog schlägt aber digital. Noch. Islam Alijaj sieht auch die Risiken von Technologie, dennoch mehr die positiven Seiten. «Die KI ist ein Hilfsmittel zur Egalisierung und Wahrung der Chancenpotenziale für die Gesellschaft und die Wirtschaft. Technologie ist ein Ausweg aus dem schwerbehinderten Körper.» Und vielleicht sei sein Gehirn dereinst direkt mit dem Internet verbunden, werde die Frage neu aufgeworfen, was denn eigentlich den Menschen und seine Seele ausmacht. Islam Alijaj beschäftigt sich natürlich auch mit den ganz profanen Herausforderungen der digitalen Schweiz. Mit den Barrieren im analogen Alltag, mit jenen im digitalen Raum. Die Digitalisierung scheitere «oft am Willen, den Prozess neu zu denken», sagt er. Darum sei die Schweiz noch lange nicht am Ziel. Als Digitalpolitiker will er nur so weit regulieren, dass Innovationen nicht verhindert werden. Sein Antrieb sind zwar bessere Lebensbedingungen für Menschen mit Behinderungen, doch er sieht seine Aufgabe viel breiter. «Behindertenpolitik ist auch Digitalpolitik. Und Sozialpolitik. Und Familienpolitik. Es ist ein Querschnittsthema.» Die Digitalisierung sei ein Schlüsselelement für eine bessere Schweiz auf vielen Ebenen. «Somit kommt eine progressive Behindertenpolitik allen Menschen zugute», sagt er. «Jeder Mensch bekommt im Laufe seines Lebens eine Behinderung.» Wir hätten aber Mühe, uns als behindert wahrzunehmen.

Aufwachsen in einer digitalisierten Welt

Seine Kinder, 10 und 6, leben ohne körperliche Einschränkungen, genauso wie ihre Mutter. Sie wachsen in einer zunehmend digitalen Welt auf, jedoch kontrolliert: Der Vater muss regelmässig das Passwort für die Familienfreigabe ändern. «Mein Sohn ist ein Schlaumeier», lacht er. Mit der Funktion in der Apple-ID steuert er die Digitalzeit seiner Kinder. «Sie müssen die digitale Welt in allen Aspekten verstehen lernen und erfahren», sagt er, «sonst werden sie in Zukunft selber behindert.» Auch als Eltern solle man keine Angst vor Social Media haben. «Sonst beherrscht dich die Angst.» Auch Beziehungen und Kommunikationsformen müsse man neu denken. «Das ist unsere Zeit. Das ist auch Digitalisierung.» Islam Alijaj will sich künftig stärker in der Bildung engagieren, fokussiert sich aber dieses Jahr auf die Revision des Behindertengleichstellungsgesetzes und natürlich auf die Inklusionsinitiative. Sie verankert die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen in der Verfassung. Die Unterschriftensammlung läuft noch bis zum Herbst. Wo sieht sich Islam Alijaj, wenn er 50 wird? Seine Augen funkeln, er lacht, dreht sich zur Sprechassistentin, damit sie ihn besser versteht: «Wer hier im Nationalrat sitzt, spielt mit dem Gedanken, Bundesrat zu werden», sagt er dann. «Aber erst muss ich zeigen, was ich kann. Dazu brauche ich digitale Hilfsmittel.» Seine innere Stärke wird ihn bestimmt dahin tragen, wo er seine Ziele verwirklichen kann. In seinen Träumen ist Islam Alijaj weit geflogen, hat sich nie als behindert wahrgenommen. Und in der harten Realität, «da musste ich mich erst akzeptieren, um vorwärtszugehen.» Vorwärts ins Bundesratszimmer. 

Assistenz im Parlament: Seit der Wahl von Islam Alijaj ist die 26-jährige Gloria Fischer seine Assistentin in Polit-Alltag und Parlamentsbetrieb. Sie unterstützt den Nationalrat bei der Kommunikation, Diskussionen und administrativen Arbeiten. Damit sie Alijaj assistieren kann, hat sie den Abschluss ihres Studiums für Internationale Beziehungen an der HSG in St. Gallen leicht hinausgezögert. (Bild: Florian Brunner)

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Bruno Habegger

Über Bruno Habegger

Bruno Habegger ist Abraxas-Magazin-Autor und Senior Communication Manager. Er verfügt über eine langjährige Erfahrung im ICT- und Energie-Bereich als Journalist, Contentproduzent und Berater. Er war Präsident einer Regionalpartei und an seinem damaligen Wohnort acht Jahre Mitglied der Sicherheitskommission.