Ein Blick zurück aus der Zukunft

In der Zukunftsvision des Futuristen und Bestsellerautors Joël Luc Cachelin schreiben wir das Jahr 2038. In seinem fiktionalen Essay wirft Jovanna Wütrich, die erste Digitalministerin des Kantons St. Gallen, an ihrem letzten Arbeitstag einen Blick zurück. Für uns ein Wegweiser in eine mögliche Zukunft.

Von Joël Luc Cachelin · 18. November 2022

Mit Fernglas und Filzschuhen ausgerüstet nimmt der Futurist Joël Luc Cachelin im Verkehrshaus Luzern die Schweiz ins Visier und gleitet in die Zukunft. (Foto: Florian Brunner)

2033 gab es in der gesamten Schweiz eine Regierungsreform. Sämtliche Kantone schlossen sich zusammen, um gemeinsam die Sicherheit ihrer IT-Systeme zu verbessern, aber auch, um Geld zu sparen. Statt dass jeder Kanton seine eigene Lösung entwickelt, programmiert man nun gemeinsam. Zudem wurden durch die Verwaltungsreform in vielen Kantonen Departemente für Digitalisierung geschaffen. Im Falle von St. Gallen integrierte man in diese neben IT- und Smart-City-Projekten auch die Standortentwicklung.

Digitalministerin

Wir treffen Jovanna in einem neu eröffneten Work & Coffees in der St. Galler Innenstadt. Natürlich hätte sie per Hologramm zum Interview kommen können, aber für wichtige Gespräche bewähre sich auch im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts das Analoge. Zudem möge sie es, in Cafés zu arbeiten. In ihrer Arbeit fühle sie sich deutlich freier als in den 2020er-Jahren. Die alten Verwaltungsgebäude hätten sie traurig und uninspiriert gemacht. Die Arbeitswelten der Verwaltung hätten noch lange die alte industrielle, manuelle Papierarbeit illustriert – auch wenn in den 2020er-Jahren in diesen Räumen längst kooperativ und mithilfe von künstlicher Intelligenz gearbeitet worden sei. Die heutigen Cloud-Organisationen der Verwaltung, in denen die Mitarbeitenden von überall alles erledigen, sind ein ebenso markanter Unterschied zum letzten Jahrzehnt wie die Co-Working-Büros, in denen Mitarbeitende aller Abteilungen arbeiten. Durch die Integration von Mediatheken und Gastronomie seien diese Räume des Kantons auch in der Bevölkerung beliebte Treffpunkte. Blicke sie zurück auf die Vergangenheit, sei das Learning Center der Universität St. Gallen eine Art Prototyp für die Zukunft gewesen.

Digitale Steuern

In ihrer Amtszeit hätten sämtliche Fragen rund um das Thema E-Taxes am meisten Reaktionen ausgelöst. Damit verbundene Innovationen und Parlamentsbeschlüsse haben zu zahlreichen Anfragen von Journalistinnen und bösen Mails geführt. Es sei wohl nicht anders zu erwarten, dass sich die Leute am stärksten für Steuerthemen interessierten, sind das doch Momente, wo die Verwaltung in jedem Leben mit Sicherheit sichtbar werde. Sie sei stolz auf ihre Errungenschaften. Auf der Basis der Pionierarbeiten in St. Gallen sei es nun in jedem Kanton möglich, per Login auf sämtliche Steuerunterlagen zuzugreifen. Auch die Vorsorge sei auf dieser Plattform abgebildet, man könne stets die eigene Rente über alle drei Säulen hinweg simulieren. Den Zugriff auf sämtliche Bankkonten hätten Bürger:innen ja schon Ende der 2020er-Jahre freischalten können – stets freiwillig, wie Jovanna betont. Einfache Anwendungen wie der Kalenderimport der Papier- und Plastiksammlung hätten die Akzeptanz der digitalen Verwaltung schnell erhöht.

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Digitale Partizipation

Im Rückblick hebt Jovanna weiter mit grosser Freude die Errungenschaften für die digitale Beteiligung hervor. Durch die weitere Digitalisierung sei es gelungen, Politik, Verwaltung und Bürger:innenschaft enger zu verknüpfen und Nähe zu schaffen. Die staatliche elektronische Identität habe für die online aktiven Menschen viele Erleichterungen gebracht – etwa bei der Bestellung eines neuen Passes oder der Eröffnung von Konten aller Art. Einen Schritt weiter sei man im Vergleich zu den 2020er-Jahren auch beim E-Voting gekommen. Jede:r Bürger:in könne heute per App abstimmen. In einem ersten Schritt habe die App die Abstimmungsunterlagen ersetzt, die noch 2023 per Post zugestellt worden waren.

In die App wurden dann bekannterweise nach und nach weitere Abstimmungs- und Wahlmöglichkeiten integriert. Manche Kantone würden heute ja sogar Teile ihrer Budgets in Zusammenarbeit mit den Bürgerinnen definieren. Studien zeigten, dass die Wahlbeteiligung gestiegen sei, seitdem man auch über das Geld der Gemeinden und Kantone direkt bestimmen könne.

Cybersicherheit

Sicherheit stehe an oberster Stelle. Die digitalen Angriffe der letzten Jahre hätten gezeigt, dass die Cyberrisiken deutlich grösser geworden seien und eine entsprechende Abwehr Pflicht sei – gerade bei sensiblen Daten, zum Beispiel der Gesundheit. Vieles musste gar nicht neu erfunden werden, sondern konnte von Vorreiterinnen wie Singapur, Estland und Taiwan für die Eidgenossenschaft adaptiert werden. Um die Sicherheit zu optimieren, würden bezahlte Hacker das ganze Jahr versuchen, die kantonalen Systeme anzugreifen. Jede Wahl und jede Abstimmung würde man im Hinblick auf mögliche Manipulationen überprüfen. Dabei habe man die grosse eidgenössische Verwaltungsreform 2033 genutzt, um nicht nur die Steuererklärungen und die AHV-Informatik sämtlicher Kantone zu vereinheitlichen. Sondern man habe mit Erfolg Zentren geschaffen, um in der Digitalisierung schweizweit vorwärtszukommen. Das habe sich nicht zuletzt deshalb bewährt, weil die kantonsübergreifenden Kompetenzzentren für Kundenorientierung, Datensicherheit, nachhaltige Digitalisierung und Open Data sehr beliebte Arbeitgeberinnen waren – gerade bei jungen Studierenden.

Joël Luc Cachelin (1981) ist ein Schweizer Futurist. 2009 gründete er die Wissensfabrik, um Unternehmen in Zukunftsfragen zu inspirieren, forschend zu begleiten und zu beraten. (Foto: Florian Brunner)

Und das Offline-Leben?

Die analoge alte Welt würde sie nicht vermissen, sagt Jovanna Wütrich. Beziehungsweise sei diese ja nicht verschwunden. Im Gegenteil habe wir in den Pandemien der letzten Jahre gelernt, welchen Wert das freie Gespräch in einem Restaurant oder beim Pausenkaffee habe. Durch die neuen Offline Dienstleistungszentren sei man als Verwaltung in den Innenstädten für alle jene da, die den direkten Kontakt mit der Verwaltung schätzen. Diese Doppelspurigkeit hätte sich sehr bewährt, um der Bevölkerung die Angst vor dem Wandel zu nehmen. Man müsse aber sehen, dass diese Offline-Zentren nur durch die Zusammenarbeit von Verwaltung, Service public und Wirtschaft möglich seien. Man teile so die Kosten für die Mieten und das Personal. Für die Menschen habe dies den Vorteil, am selben Ort – von Krankenkassen über Erbschaften bis zu Bank- und Postgeschäften – sämtliche Alltagsdienstleistungen abrufen zu können.

Wie es weitergeht?

Von Jovanna wollen wir noch wissen, wie es nun mit der Digitalisierung weitergehe. Ein Thema, das an Bedeutung gewinnen werde, sei etwa Augmented Reality im Tourismus – um Gebäude und Plätze so sichtbar zu machen, wie sie vor hundert Jahren ausgesehen hätten. Zudem habe sich in den letzten Jahren gezeigt, dass die Digitalisierung viel enger mit dem Megatrend Nachhaltigkeit gedacht werden müsse. So seien zum Beispiel Leerfahrten in der Logistik nur reduzierbar, wenn man in der Logistik sehr viele Daten habe und die Anbieter koordinieren würde. Auch im zirkulären Bauen sei man auf Daten angewiesen. Sollen Baustoffe wiederverwendet werden, müssten Bauherrinnen wissen, wo welche Elemente verbaut wurden, um die Kreisläufe schliessen zu können. Jedes Gebäude sollte mithilfe der Digitalisierung zur urbanen Mine werden.

Joël Luc Cachelin

Über Joël Luc Cachelin

Joël Luc Cachelin analysiert, strukturiert, kombiniert – als interdisziplinärer und multimedial tätiger Zeitreisender. 1981 in Bern geboren, führten ihn Studium, Promotion und Weiterbildung in den Disziplinen Betriebswirtschaftslehre, Technologiemanagement, Statistik und Geschichte an die Universitäten St. Gallen, Bern und Luzern sowie an die HWZ Zürich. Er forscht, begleitet und berät in Zukunftsfragen.