Vom Aufbruch in die Demokratie 2.0

Demokratie verändert sich durch die künstliche Intelligenz (KI). Noch ist die Schweiz in der Experimentierphase. An der KOF ETH Zürich wird an der Zukunft der direkten Demokratie geforscht.

Von Bruno Habegger · 6. Juni 2025

Die USS Enterprise hatte des Öfteren mit KIs ausser Rand und Band zu kämpfen. Kann man aber digitale Klone nutzen? (Bild. ChatGPT)

Sternzeit 4729,4. Auf dem Raumschiff Enterprise wird in der 1968 erstmals ausgestrahlten Folge der zweiten Staffel der neue Bordcomputer M5 eingeführt, eine KI ausser Kontrolle. In Staffel 1 trifft die Crew auf eine totalitäre Gesellschaft, die einem Anführer namens Landru folgt – einer KI, die glaubt, dem eigenen Volk etwas Gutes zu tun und dabei scheitert. Seit den Anfängen der KI ist ihre Wirkung auf die Gesellschaft auch in der Kultur ein Thema. Nun beschäftigen sich Politik und Forschung damit. Ist die Demokratie 2.0 von der KI gelenkt? Oder ist sie gar gefährdet? Die Debatte hat eben erst begonnen.

Dank KI zum digitalen Zwilling für eine bessere direkte Demokratie - wie soll das gehen? (Bild: ChatGPT)

Einige Fähigkeiten der KI sind auch für die digitale Demokratie wesentlich; etwa die Leichtigkeit, mit der Falschinformationen oder ideologisch gefärbte KI-Antworten verbreitet werden. Bei LLM-Grooming fluten Chatbot-Netzwerke die KI mit manipuliertem Trainingsmaterial – bekannt geworden ist etwa das Prawda-Netzwerk, das in vielen Sprachen für Desinformationskampagnen genutzt wird. Zudem: Wenn einem die KI gehört, ist es nicht allzu schwer, ihr rassistische oder geschichtsfälschende Informationen unterzujubeln. Sie hat ja kein Bewusstsein und merkt es nicht – denn Statistik ist ihr Motor, nicht die Wahrheit. Darum halluziniert sie immer wieder, erfindet ihre eigene Wirklichkeit oder versagt den Dienst, wenn ihr etwas nicht passt. Und sie kann lügen: Deep Fakes, gefälschte Videos und Stimmen ermöglichen es, den politischen Gegner mit einem Prompt zu desavouieren.

Trotz aller Risiken ist die KI dazu geeignet, den Staat und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu verändern. Einer, der daran glaubt und an der nächsten Demokratie arbeitet, ist ETH-Professor Hans Gersbach, Co-Direktor der KOF Konjunkturforschungsstelle.

Demokratie als KI-Agentennetz

Gersbachs Idee basiert einfach gesagt auf dem Konzept der «Digital Twins», also der digitalen Abbilder der Stimmberechtigten, die sich genauso wie ihre Originale verhalten. Hinzu kommen neue Abstimmungsformen und -regeln wie etwa flexible Mehrheitsregeln oder Assessment Voting (Vorabstimmung mit einer zufällig ausgewählten Gruppe). Nach einem Training der Vorlieben, persönlichen Werte und des Stimmverhaltens würden die Twins zuerst abstimmen. Das Ergebnis wäre noch nicht bindend, würde aber die Debatte anregen und die Meinung bei den Menschen festigen, die sich über die Entscheidungsfindung der KI hinter den «Digital Twin Citizens» informieren. Danach würde eine zweite Abstimmung stattfinden, bei der die Menschen definitiv entscheiden.

«Supporter Democracy» nennt sich das Modell, an dem Hans Gersbach mit César Martinelli von der kalifornischen George Mason University forscht. Dieses Demokratiemodell mit KI und zweifacher Stimmabgabe könnte eines der grundlegenden Probleme der aktuellen, seit 1848 bestehenden Demokratie lösen: Die Geschäfte sind komplexer und unverständlicher geworden. Mit der Vorabstimmung könnten Menschen ein höheres Informationslevel leichter erreichen und bewusster abstimmen.

Wie sich das heutige demokratische System dadurch entwickeln würde, ist offen. Hans Gersbach: «Es ist jedoch ersichtlich, dass KI-Systeme die Demokratien verändern werden, Demokratie neu gedacht werden kann, und wir grosse Veränderungen der demokratischen Institutionen vor uns haben.» Erst gelte es, das zweistufige Verfahren voranzubringen: «Das braucht noch einige Entwicklungszeit, und selbstverständlich müssen auch die Risiken, Manipulationsmöglichkeiten und möglichen Verzerrungen beachtet werden.» Gelinge es, könne die KI der direkten Demokratie weltweit zum Durchbruch verhelfen.

Wie stimmt mein digitaler Zwilling? Macht das meine Entscheidung besser? (Bild: ChatGPT)

Menschzentrierter Ansatz

Der Weg ist weit. So wählt und stimmt die KI in ihrem aktuellen Zustand vor allem mehrheitsorientiert ab. Das hat jüngst ein Experiment an der ETH Zürich gezeigt. Sie entscheidet sich bei einer Auswahl von Optionen (z.B. bei Verhältniswahlen) einheitlicher als Menschen. Dazu passt ein anderes Experiment der Hochschule Luzern. Hier wählten mehrere KIs meist Parteien aus der Mitte, oft die Grünliberalen. Deepseek aus China steht hingegen der SP nahe. Generative KI (LLM) ist somit politisch nicht neutral: Das Trainingsmaterial bestimmt ihren Platz auf dem Links-Rechts-Schema.

Die Studie der ETH mahnt generell zur Vorsicht beim KI-Einsatz in der Demokratie: Ein menschzentrierter Ansatz sei essenziell. Die KI soll die kollektive Intelligenz der Menschen unterstützen und Defizite beseitigen, wie etwa «die Verbesserung des Kostenbewusstseins, die Überwindung menschlicher kognitiver Verzerrungen, die Zusammenfassung und Erläuterung von Sachverhalten oder die Bereitstellung von Nuancen und zusätzlichem Kontext für die öffentliche Politik und die öffentliche Meinung.»

Während die Forschung an der Demokratie der Zukunft fortschreitet, ziehen die LLM-KI-Systeme bereits in die Gesellschaft und damit auch in die Politik ein – im Guten wie im Schlechten. Die junge Generation sieht KI bereits heute als Teil der Demokratie. Eine aktuelle Ausstellung im Polit-Forum Bern zeigt, wie.

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Noch bleibt die KI-Politik Kunst

Der EPTA-Report 2024 gibt eine Übersicht über aktuelle Trends in den Ländern. Er enthält auch einen Schweizer Beitrag, erstellt von TA-Swiss, der Stiftung für Technologiefolgen-Abschätzung. Dieser fasst die KI-Aktivitäten der Politik zusammen und zeigt: Politiker und Parteien befinden sich in der Experimentierphase – mit Deepfakes, aber auch mit inklusiven Anwendungen der KI. So kann sich dank ihr Digitalpolitiker Islam Alijaj verständlich ausdrücken. ETH-Forscher Joshua Yang könnte sich ein digitales Abstimmungsbüchlein vorstellen, das die Bürgerinnen und Bürger befragen könnten. Eine ähnliche Idee ist diesen Frühling in Deutschland zur Bundestagswahl realisiert worden. Die Menschen konnten mittels wahl.chat die Wahlprogramme der Parteien vergleichen.

Noch sieht Publizist Matthias Zehnder die demokratische Gesellschaft nicht auf die Künstliche Intelligenz vorbereitet. «Wir müssen neue Diskursräume in der analogen Welt schaffen. Nur dort ist sichergestellt, dass uns kein Algorithmus dazwischenfunkt.» Derweil müssen wir uns nicht vor Landru fürchten. Eine von einer KI angeführte Partei - eine Mischung aus Kunst- und Politexperiment - schaffte es in Dänemark im ersten Anlauf 2022 auf jeden Fall nicht ins Parlament. Bloss elf Unterschriften reichten nicht, um überhaupt auf die Wahlzettel zu kommen.

Bruno Habegger

Über Bruno Habegger

Bruno Habegger ist Abraxas-Magazin-Autor und Senior Communication Manager. Er verfügt über eine langjährige Erfahrung im ICT- und Energie-Bereich als Journalist, Contentproduzent und Berater. Er war Präsident einer Regionalpartei und an seinem damaligen Wohnort acht Jahre Mitglied der Sicherheitskommission.